03. März 2023

Absolut masslos

Absolut masslos
Lesezeit ca. 4 min

Alles sei eine Frage des Masses, hört man immer wieder. Doch: Halten wir uns daran …?

Von allem zu viel

Für die Fussballweltmeisterschaft 1966 in England waren 16 Mannschaften qualifiziert, später waren es plötzlich 24, in Katar 2022 waren es 32 – und nun plant die FIFA eine Weltmeisterschaft mit 48 Mannschaften. Beim Einkauf in der Migros, als ich noch ein Knabe war, standen ungefähr sechs oder sieben verschiedene Joghurts im Regal und etwa fünf oder sechs verschiedene Käsesorten. Heute sind es (also genau weiss ich es nicht …) mindestens 50 Sorten bei den Joghurts und zwanzig Sorten beim Käse.

Als ich noch klein war, konnten wir etwa vier oder fünf Fernsehsender empfangen. Die Programme begannen oft erst um 18 Uhr und um Mitternacht war Schluss. Heute kann ich 268 Programme empfangen, wobei alle rund um die Uhr, also 24 Stunden, senden. Gleiches gilt für die Radioprogramme.

Skirennen gab es früher von Mitte Dezember bis Mitte März, also im Winter, heute starten die ersten Rennen schon Mitte Oktober. Ganz zu schweigen von der Werbung, die überall und jederzeit auf uns hereinprasselt.

«Wo man hinschaut – ob beim Sport, in der Werbung, im Supermarkt, im Radio und Fernsehen –, fast überall gibt es von allem viel zu viel.»
Albin Rohrer

«Sono pazzi questi romani» (Die spinnen, die Römer.), war bei Asterix und Obelix zu lesen. Aber offenbar spinnen nicht nur die Römer, irgendwie spinnen wir alle ein wenig. Warum bloss haben wir das Gefühl, von allem immer noch mehr haben zu wollen? Warum können wir denn nicht zufrieden sein mit dem, was wir haben? Warum müssen wir zum Beispiel im Januar Erdbeeren essen, die Tausende von Kilometern hertransportiert werden müssen? Das Gleiche gilt für Trauben und viele andere Produkte.

Völlerei und Gefrässigkeit

Ganz so neu allerdings ist das Thema «Masslosigkeit» dann aber auch nicht. Bereits zu biblischen Zeiten war die Rede von Völlerei, Schwelgerei, Gefrässigkeit und Unmässigkeit. Das sind alles Synonyme für die Masslosigkeit, und sie gelten in der christlichen Kultur gar als Todsünden. Und nicht nur das Christentum warnt davor: Masshalten und Mässigkeit sind in vielen anderen Religionen auch ein zentrales Thema, unter anderem sehr ausgeprägt im Buddhismus. Doch scheint mir, dass die Masslosigkeit in unserer Kultur nicht abnimmt, sondern stetig noch zunimmt.

«Da stellen sich mir schon ein paar Fragen: Wie wird das bloss einmal enden, wenn wir unbeschränkt alles dauernd vergrössern, erweitern und ergänzen?»
Albin Rohrer

Wo ist denn bloss die allerletzte Grenze und was wird wohl geschehen, wenn wir diese Grenze erreicht haben werden? Interessant scheint mir die Frage zu sein, wie gut es dann denjenigen gehen wird, denen die Mässigkeit bislang ein Fremdwort war. Könnte es sein, dass sie im ersten Moment erschrecken, um dann später festzustellen, dass man sich mit weniger doch irgendwie besser fühlen könnte …?

Eine permanente Aufgabe

Der Umgang mit dem richtigen Mass betrifft uns alle. Und zwar immer wieder, in praktisch sämtlichen Lebensbereichen.

«Masshalten ist ganz offensichtlich eine permanente Aufgabe und Herausforderung für uns alle.»
Albin Rohrer

Was ist das richtige Mass? Wie viel tut uns gut und wann ist es zu viel? Die Frage stellt sich übrigens nicht nur beim Verzehr von Schokolade, beim Rauchen oder beim Bier trinken, sondern auch beim Telefonieren, beim SMS-Schreiben, beim Spielen am Computer, beim Surfen im Internet, beim Arbeiten, beim Sex, beim Ausführen von sportlichen Aktivitäten, beim Reden, beim Fernsehen … Also eigentlich überall!

Ein altes Sprichwort besagt übrigens Folgendes: «Der Unzufriedene hat oft zu viel, aber nie genug.» Und in seinem Werk «Menschliches, Allzumenschliches» schrieb Friedrich Nietzsche: «Die Mutter der Ausschweifung ist nicht die Freude, sondern die Freudlosigkeit.»

Aha, das könnte es wohl sein …