08. April 2020

Alleinsein ist lernbar

Alleinsein ist lernbar
Lesezeit ca. 8 min

Wer ist denn schon gerne alleine? Vielen Menschen fällt das Alleinsein ausgesprochen schwer, sie fühlen sich sehr bald einsam. Und sie leiden. Doch: Das Alleinsein ist lernbar!

Plötzlich allein

Das Beispiel von Peter* ist klassisch. Er ist 48 Jahre alt, hat sich soeben von seiner Partnerin getrennt, hat sich eine Wohnung eingerichtet und lebt zum ersten Mal im Leben alleine. Und er erzählt Folgendes: «Mit 22 bin ich von zu Hause ausgezogen und habe mit meiner damaligen Freundin zusammengewohnt. Bald schon heirateten wir, es kamen zwei Kinder. Aufgewachsen bin ich zusammen mit vier Geschwistern, ich lebte also nie alleine. Ich hatte immer Menschen in der Nähe, Menschen, die mir vertraut waren und bei denen ich mich aufgehoben fühlte.

Und dann sitze ich plötzlich ganz alleine in einer Wohnung. Niemand sagt mir «guten Morgen», niemand fragt mich, wie mein Tag war, wenn ich abends von der Arbeit zurückkomme. Ich stehe morgens alleine auf, ich gehe alleine einkaufen, ich koche alleine, ich esse alleine, ich schaue mir alleine einen Film im Fernsehen an; wenn ich krank bin, mache ich mir den Tee selber und jeden Abend gehe ich alleine ins Bett. Das ist grauenhaft, ich halte das fast nicht aus. Ich fühle mich wie eine Pflanze, die man im Garten ausgerissen und auf die Strasse geworfen hat — und die jetzt krampfhaft versucht, irgendwo wieder Wurzeln zu schlagen.

Und ich werde mir schmerzlich bewusst, dass ich keine Freunde habe. Arbeitskollegen habe ich, ja … und aus dem Fussballverein kenne ich ein paar Typen, aber wirkliche Freunde – das habe ich nicht. Nun ist mir auch klargeworden, dass in all den Jahren immer meine Ex alle Beziehungen gepflegt hat und ich mich kaum um soziale Kontakte gekümmert habe.

Jetzt sitze ich alleine in meiner Wohnung und fühle mich komplett einsam, leer und traurig … Ich bin deprimiert, enttäuscht, zerschmettert, zerknittert. Ich glaube, den gesamten Weltschmerz auf meinen Schultern tragen zu müssen. Enttäuscht über die missglückte Beziehung, gepeinigt vom Leben, drangsaliert vom Schicksal, geschunden von den misslichen Lebensumständen. Und einsam!»

Eine Qual oder ein Glück

Wer fühlt sich schon gerne einsam? Kaum jemand. Die Einsamkeit ist für viele Menschen schwer auszuhalten. Und das ist grundsätzlich verständlich.

«Denn: Der Mensch ist von Natur aus kein Einzelgänger, er ist ein soziales Wesen, er braucht Kontakte und Beziehungen.»
Albin Rohrer

Entsprechend grosse Anstrengungen werden unternommen, um dem Alleinsein und dem Gefühl der Einsamkeit auszuweichen. Männer suchen Abenteuer, Ablenkung durch übermässig viel Arbeit oder sie stürzen sich in intensive sportliche Tätigkeiten. Frauen schlendern stundenlang durch Shopping-Center, kaufen Kleider, Schmuck und Schuhe und hängen möglichst oft am Telefonapparat.

Kurz und gut: Sobald sich jemand beginnt einsam zu fühlen, entsteht ein Reflex: Man versucht zu vergessen und zu verdrängen. Man stürzt sich ins Gewühl des Lebens, unter Leute oder in die Arbeit. Man klammert sich an Menschen, von denen man hofft, dass sie Verständnis haben, die einem Geborgenheit oder gar Liebe schenken könnten. Doch trotz allen Versuchen: Es gibt Situationen und Momente, in denen wir uns einsam fühlen und aus irgendwelchen Umständen nichts dagegen machen können. Und dann entsprechend leiden.

Doch: Wer sich einsam fühlt und dagegen kämpft, der ist verloren. Wer sich jedoch mit der  Einsamkeit anfreunden kann, der hat gewonnen.

«Allein sein zu müssen ist eine grosse Qual, während allein sein zu können ein grosses Glück ist. Und wahr ist auch, dass zwischen dem Müssen und dem Können ein sehr langer und auch sehr schmerzhafter Prozess stehen kann. Von einem Moment zum anderen schafft das kaum jemand.»
Albin Rohrer

Einsamkeit akzeptieren

Mit aller Gewalt kämpfte Peter anfänglich gegen das Gefühl der Einsamkeit. «Ich wollte es nicht wahrhaben. Das darf nicht sein! Ich verdrängte das Gefühl und stiess es von mir weg. Irgendjemand muss mich doch tragen, nähren, halten. Doch was ich auch unternahm, es ging nicht. Je mehr ich gegen das Gefühl der Einsamkeit kämpfte, desto grösser wurde der Schmerz.

Plötzlich wurde mir klar: Entweder ich nehme dieses Gefühl an und kann es durch dieses Annehmen schliesslich überwinden, oder ich kämpfe diesen aussichtslosen Kampf sinnlos weiter, bis ich sämtliche Lebenskraft verloren habe. Dadurch, dass ich dieses Gefühl annehmen konnte und meine Einsamkeit quasi akzeptierte, ging es schrittweise immer besser.

Ich lernte, für mich selbst zu sorgen. Ich lernte auch, unabhängiger von anderen Menschen zu werden. Je mehr mir dies gelang, desto mehr fand ich auch wieder guten Kontakt zu anderen Menschen. Das Gefühl der Einsamkeit löste sich auf, wenn auch nur langsam. Und immer wieder hatte ich heftige Rückschläge hinzunehmen. Es war eine ausgesprochen harte, aber schliesslich wertvolle Erfahrung. Schliesslich habe ich die Angst verloren, wieder einsam zu werden. Und das ist in ganz besonderem Masse ein sehr beruhigendes Gefühl.»

Neue Möglichkeiten

Auch der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer hat sich mit dem Thema «Einsamkeit» befasst. Er sieht darin gar eine grosse Chance: «Ein Hauptstudium der Jugend sollte sein, die Einsamkeit ertragen zu lernen: Weil sie eine Quelle des Glückes und der Gemütsruhe ist».

«Schopenhauer ist der Ansicht, dass die Einsamkeit die Möglichkeit eröffnet, sich selber zu spüren und auch besser kennenzulernen.»
Albin Rohrer

«In der Einsamkeit fühlt der Jämmerliche seine ganze Jämmerlichkeit und der grosse Geist fühlt seine ganze Grösse».

Gerade tröstlich scheint diese Aussage kaum zu sein, wenn sich jemand einsam und jämmerlich fühlt, obschon auch Goethe diese Ansicht teilt und sich ähnlich darüber äusserte: «Um die Einsamkeit ist’s eine schöne Sache, wenn man mit sich selbst in Frieden lebt und etwas Bestimmtes zu tun hat». Friedrich Schiller drückte diesen Gedanken poetisch aus: «Der Adler fliegt allein, die Spatzen scharenweise. Gesellschaft braucht der Tor und Einsamkeit der Weise».

Der indische Weise Vauvenargues sieht in der Einsamkeit auch eine Chance, allerdings nur, wenn es ein gewisses Mass nicht überschreitet. «Die Einsamkeit ist dem Geiste, was dem Körper die Diät ist. Tödlich, wenn sie zu lange dauert, gesund aber im richtigen Masse». Das heisst: Ein Leben lang alleine zu sein, ist kaum erstrebenswert (es gibt ja auch nur ganz wenige Menschen, die das können und auch wollen). Doch für eine gewisse Zeit mit sich selbst allein sein zu können, ist auf jeden Fall lohnenswert.

Selbstliebe

Wer alleine ist, der muss sich gezwungenermassen mit sich selbst beschäftigen: Selbstachtung, Selbsterkenntnis, Selbstbewusstsein, Selbstständigkeit, Selbstbeherrschung, Selbstbestimmung, Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl, Selbstverantwortung, Selbstverwirklichung und nicht zuletzt die Selbstliebe sind die zentralen Themen. Wer alleine ist und sich einsam fühlt, der muss — ob er will oder nicht — sich selbst etwas geben und selbst etwas für sich tun.

Das hat schliesslich auch Peter erfahren:

«Erst, als ich alleine war und mich einsam fühlte, merkte ich, wie schlecht ich früher mit mir selbst umging.»
Peter

«Ich achtete mich kaum, ich vertraute mir nicht, ich schob vieles immer auf andere ab. Schritt für Schritt begann ich, für mich selbst zu sorgen und mir selbst das zu geben, was ich wirklich brauche. Mehr Selbstachtung war angesagt: Weniger rauchen, mehr Bewegung, gesünder essen. Als ich merkte, dass ich das kann, stieg allmählich auch mein Selbstvertrauen.

Und ich wurde selbstständiger. Ich ging alleine ins Kino oder an Konzerte, ich ging sogar alleine in die Ferien, was ich mir früher nie hätte vorstellen können. Es gelang. Zwar nicht sofort, doch zunehmend besser. Dadurch stieg wiederum mein Selbstwertgefühl. Und je liebenswerter ich mich selbst fand, desto liebenswerter fanden mich offenbar auch andere. Das Problem mit der Einsamkeit löste sich langsam auf. Nicht durch Grübeln und Klagen, sondern durch konkretes Handeln».

 

*Name geändert