Wie baut man für Menschen, deren Hör- und Sehvermögen stark eingeschränkt sind – oder gänzlich fehlen? Mit der Planung von zwei Neubauten hat die «Tanne», die Schweizerische Stiftung für Taubblinde in Langnau am Albis, architektonisches Neuland betreten. Ein Gespräch mit Mirko Baur, dem Gesamtleiter der Stiftung, über ein Bauprojekt der besonderen Art.
Es gibt viele verschiedene Kommunikationsformen. Die doppelte Sinnesbeeinträchtigung ist bei jedem Menschen anders. Entsprechend muss man auch bei der Kommunikation an unterschiedlichen Stellen ansetzen und bei Bedarf Mischformen der Sprachen entwickeln. Grundsätzlich macht es dabei einen grossen Unterschied, ob Menschen schon von Geburt an taubblind sind, oder ob sie es erst im Laufe ihres Lebens wurden. Bei einer angeborenen Taubblindheit kennen die Betroffenen noch keine Laut- und keine Schriftsprache. Das macht zum Beispiel das sogenannte «Lormen» äusserst schwierig: Hierbei wird in die Handfläche geschrieben, und zwar über Druckpunkte, die jeweils bestimmten Buchstaben entsprechen. Auch die bekannte Brailleschrift, bei der Buchstaben über Punkte erfühlt werden, setzt ein Verständnis für das Alphabet voraus.
Es gibt beispielsweise taktile Gebärden: Die/der Taubblinde legt ihre/seine Hand auf die der/des Gebärdenden und kann so die Bewegungen ablesen. Damit beginnt es aber nicht: Zunächst muss es gelingen, Gegenstände, Gefühle oder Erlebnisse mit individuellen Ausdrucksformen wie Gesten zu verbinden. Generell hängt die Kommunikationsform jeweils stark von den persönlichen Fähigkeiten der betroffenen Person ab.
Genau, für beide Seiten ist das eine Reise in ein neues Land. Jede*r Klient*in der Tanne hat hierfür ein festes Förderteam, das aus mehreren Fachpersonen aus Bereichen wie der Physiotherapie, dem Lehramt und der Logopädie besteht. Sie alle müssen dieselbe individuelle Sprache lernen.
Es gibt zwar durchaus Normen und Referenzobjekte, wenn es um Gebäude für blinde oder für gehörlose Menschen geht. Es gibt aber keinerlei Referenzwerte für Gebäude, die für Menschen mit kombinierter Seh- und Hörbeeinträchtigung gebaut werden oder für Menschen mit einer anderen Mehrfachbehinderung.
Zusammen mit dem Basler Architekturbüro Scheibler & Villard mussten wir quasi ein eigenes Architekturkonzept entwickeln, mit dem man sich über den Tast, aber auch über den Geruchssinn im Gebäude zurechtfinden kann. Dabei haben wir uns primär auf unsere bisherigen Erfahrungswerte mit Betroffenen gestützt.
Bei dem einen Gebäude handelt es sich um ein Wohnhaus mit inklusiver Kindertagesstätte und einer internen Wäscherei, beim anderen um ein Schul- und Betriebsgebäude mit Therapieräumen und öffentlichem Café.
Im Gebäude wurden verschiedene Materialien eingesetzt. Der Gebäudekern, in dem sich das Treppenhaus, die Liftanlage und die Sanitärräume befinden, ist in Beton gefertigt. Die Wände fühlen sich entsprechend kalt und hart an. Um den Gebäudekern herum führt auf jedem Geschoss ein Erschliessungsgang, von dem jeweils Zimmer abgehen, Richtung Fassadenseite. Dort kam Holz zum Einsatz, das sich warm und weich anfühlt – und sich zudem auch akustisch vom Betonbereich unterscheidet: Hier ist der Klang sehr trocken, es hallt also nur sehr wenig. Für Personen, die über ein restliches Hörvermögen verfügen, ist es deshalb einfacher, Geräusche oder Worte zu verstehen.
Das Muster variiert auf jedem Stockwerk und verläuft entweder horizontal, vertikal oder diagonal. Das Muster findet sich auch beim Fliesenspiegel in den Sanitärräumen auf dem jeweiligen Stockwerk wieder.
Am Betonkern entlang führt ein Handlauf. Einritzungen zeigen an, in welcher Richtung sich der Haupteingang befindet. Ausserdem sind «Dellen» spürbar, die signalisieren, dass auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs ein Zimmer abgeht.
Unterhalb der Delle hängt zudem ein Objekt, das verrät, um was für ein Zimmer es sich dabei handelt: Ein Kaffeelöffel steht symbolisch für das Café, ein kleiner Trommelschläger für das Musikzimmer, und ein kleines Kissen mit weichem Plastikbezug für den sogenannten Snoezelen-Raum. Das ist ein Wohlfühl und Entspannungsraum mit Lichteffekten, Bällebad, Hängematte und einem Wasserbett, bei dem Lautsprecher das Wasser zum Schwingen bringen.
Auch die Klassenzimmer lassen sich anhand von fühlbaren Objekten voneinander unterscheiden: Jedes Klassenzimmer wird durch ein Bezugsobjekt zur entsprechenden Klassenlehrperson angezeigt. Alle Lehrer*innen haben somit auch einen persönlichen Gebärdennamen. Das entsprechende Objekt gibt es übrigens gleich in mehrfacher Ausführung: Zum einen trägt die Lehrperson es als Erkennungsmerkmal am Handgelenk, zum anderen wird es beim Kommunizieren eingesetzt, damit auch bei Abwesenheit über die Person gesprochen werden kann. Darüber hinaus hängt es an der taktil informativen Stockwerkübersicht am Haupteingang. Daran sieht man, ob die Person im Haus ist.
Beim Eingang des Schulgebäudes befindet sich das öffentliche Café. Wenn man reinkommt, riecht es nach Kaffee oder Mittagessen. Im Wohngebäude ist eine Wäscherei untergebracht, dort riecht es entsprechend anders.
Auch im Treppenhaus, in den Sanitärräumen oder im Flur kann man olfaktorisch erkennen, wo man ist. Denn dort riecht es nach Beton. In allen anderen Räumen – darunter sämtliche Klassenzimmer und Therapieräume – duftet es hingegen nach Holz.
Unsere Klientinnen und Klienten haben sich in den neuen Gebäuden der Tanne sofort zu rechtgefunden und wohlgefühlt. Das hat uns gezeigt, dass wir ihren Bedarf gut verstanden und architektonisch richtig abgebildet haben.
Gegründet wurde die Stiftung 1970 in Zürich. Damals entstand ein erstes Sonderschulheim mit Wohnangebot für vier Kinder. Daraus entwickelte sich schnell eine Institution für Taubblinde jeglichen Alters. Die Menschen, die die Tanne besuchen, dort leben oder arbeiten, sind unterschiedlich stark beeinträchtigt und haben mehr oder weniger stark ausgeprägte Seh- und Höreinschränkungen oder andere Formen der Wahrnehmungsbeeinträchtigung. Oft kommen weitere körperliche oder kognitive Beeinträchtigungen hinzu.
Im Jahr 2019 hat das Taubblindenzentrum Tanne in Langnau am Albis zwei neue Gebäude fertiggestellt: ein dreigeschossiges Wohnhaus mit inklusiver Kindertages stätte sowie ein dreigeschossiges Schul- und Betriebsgebäude mit Therapieräumen und öffentlichem Café. Mehr Informationen finden Sie unter tanne.ch