Gespanne fürs Leben
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© Bilder: Stiftung Schweizerische Schule für Blindenführhunde Allschwil | Anja Maria Wullschläger

Seien es die Wurfbox mit den einmonatigen Welpen, die Hundezimmer, die Transporter oder der Auslauf: Alles ist wohldurchdacht und perfekt in Schuss hier in Allschwil. Und wir spüren ab der ersten Sekunde das Herzblut, mit dem hier alle bei der Sache sind – egal, ob Mensch oder Tier. Instruktor Roland Stadler erzählt uns von seiner Passion.

Mich hat sehr überrascht, dass es eidg. dipl. Blindenführhundeinstruktoren gibt. Sie sind einer davon, Roland – wie kam es dazu?

Schon als Kind war ich ein Hundenarr. Als meine Mutter mir vom Flohmarkt in Schmitten das Buch «Der Blindenhund» mitbrachte, war mein Berufswunsch gesetzt. Zusammen mit meinem Vater schrieb ich einen Brief an den Gründer der Schule in Allschwil und erfuhr, dass ich erst etwas anderes lernen müsse. So führte mein Ausbildungsweg über Landschaftsgärtner und Tierpfleger bis zur damals noch internen dreijährigen Schulung in Allschwil. Seit Beginn der Nullerjahre gibt es auf Tertiärstufe die Ausbildung mit eidg. Diplom, mit einer Abschlussmöglichkeit alle vier Jahre.

Gespanne fürs Leben | Roland Stadler Blindenführhundeschule Allschwil

Sie übernehmen die künftigen Blindenführhunde im Alter von eineinhalb Jahren, wenn diese von den Patenhundehaltern (siehe Box) zurück in die Schule kommen. Gibt es vorher schon eine erste Selektion?

Ja, wenn die Hunde einjährig sind, werden alle Gelenke geröntgt und die Augen genau geprüft. Auch einen «Schusstest» müssen sie bestehen; dazu später mehr. Sind diese Hürden genommen, und gibt es sonst keine Auffälligkeiten im Wesen, steht dem Start der Ausbildung nichts entgegen.

Und während der Ausbildung?

Da gibt es regelmässige Visitationen, in denen der Hund auch von einer Zweitperson in Augenschein genommen wird. Ist alles gut, geht es einfach weiter. Gibt es Probleme, stellen wir unser internes «Ampelsystem» auf Orange und verfolgen die Fortschritte noch etwas genauer.

Was, wenn die Ampel auf Rot wechselt?

Natürlich versuchen wir möglichst früh, Probleme zu erkennen. Aber es kann während der ganzen Ausbildung etwas passieren. Dann besteht die Durchlässigkeit in unsere anderen Sparten: zu den Assistenzhunden (für Menschen im Rollstuhl) oder zu den Autismus-Begleithunden. Oder, als dritte Variante, der Wechsel zu einem tollen Familien- und Sozialhund, der bei Besuchen in Altersheimen, Kindergärten, Spitälern oder auch Gefängnissen viel Freude verbreiten kann.

Die Zucht in Allschwil beschränkt sich auf Labradore – eine Rasse, die sich besonders gut eignet. Labradore bringen sehr gute Eigenschaften mit, das beweist auch unsere vergleichsweise tiefe Ausfallquote. Sie zeichnen sich durch ihren ausgeprägten «Will to please» – den Willen, dem Halter zu gefallen – aus; und auch durch ihre «Verfressenheit». Beides machen wir uns in der Ausbildung zunutze.

Gespanne fürs Leben | Roland Stadler Blindenführhundeschule Allschwil

Paten machen’s möglich

Rund 80 Welpen kommen in Allschwil zur Welt. Sie leben während zehn Wochen mit ihrer Mutter in der Zucht und werden schon von klein an auf ihre künftige Aufgabe – Menschen zu helfen – vorbereitet. Die Erziehung der Junghunde ist die Aufgabe von Paten. Die Patenfamilien gewöhnen den jungen Hund an die Umwelt,
indem sie mit ihm Auto, Bus oder Tram fahren. Zur Sozialisierung gehören auch Begegnungen mit anderen Tieren und das Kennenlernen des städtischen Trubels. Die Schule begleitet die Paten engmaschig und übernimmt die Kosten der Hundehaltung.

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Wie viele der jährlich rund 80 in Allschwil geborenen Welpen werden tatsächlich Blindenführhund?

Die Anforderungen sind hoch. Etwa die Hälfte unserer Hunde hat schlussendlich das Zeug zum Führhund; zusammen mit den anderen drei Sparten kommen wir aber auf eine Erfolgsquote von rund 95 Prozent an Tieren, die in diesem Sinne den Stiftungszweck erfüllen.

Welches sind die wichtigsten Wesensmerkmale?

An erster Stelle steht die Gesundheit, die ist entscheidend. Und wir brauchen Hunde, die wesenssicher sind. Da gibt es zum einen die optische Sicherheit: Der Hund darf sich beispielsweise weder durch eine Person mit komischem Gang noch durch jemanden, der einfach einen grossen Regenhut trägt, verunsichern lassen. Durch Bindung und Training können wir da ein gutes Fundament legen.

Anders sieht es bei der akustischen Sicherheit aus: Besteht ein Hund den bereits erwähnten «Schusstest» mit Platzpatronen nicht, weil er Schreckhaftigkeit und Fluchtverhalten zeigt, dann war’s das mit der Ausbildung.

Ausserdem muss ein Hund mit den ganzen Umweltreizen umgehen können, die in der Stadt auf ihn einprasseln. Es ist immer eine Gratwanderung zwischen zu viel und zu wenig Sensibilität – schliesslich muss er einen ausgeglichenen Charakter haben.

Wie verläuft der Übergang von der «Patenhundezeit» in die Ausbildung?

Wir legen grossen Wert darauf, dass die Übergabe des Hundes ausserhalb der Schule stattfindet, damit das Tier später hier nicht vergeblich sein Patenfrauchen/-herrchen sucht.

Gespanne fürs Leben | Roland Stadler Blindenführhundeschule Allschwil

Nach dem ausführlichen Übergabegespräch, an dem auch der Begleiter aus dem Patenteam mit dabei ist, sind wir als Instruktoren gefragt: Der Bindungsaufbau ist zentral.

Ich verbringe mit «meinen» Hunden jeweils die ersten Tage rund um die Uhr zusammen. Ich schaffe möglichst viele positive gemeinsame Erlebnisse, sei dies unterwegs auf Wanderungen, beim Spielen, Kuscheln und gemeinsamen Ruhen bei mir zu Hause und auch an der Schule im Hundezimmer, im Auslauf und natürlich beim Füttern. So kann sich der Hund in kleinen Schritten mit seiner neuen Umgebung, dem ganzen Drumherum vertraut machen – und mich als seine neue Bezugsperson kennenlernen.

Es gibt auch erste Abklärungen an der Leine und in der Stadt, um Reaktionen zu beobachten, etwa auf «komische Dinge» wie Statuen. Nach ungefähr zwei Wochen Eingewöhnung geht es dann los mit der eigentlichen Ausbildung – das Führgeschirr wartet!

Mit welchem Kniff gewöhnen Sie den Hund ans Geschirr?

Ich arbeite gerne mit Futter als Anreiz und lasse den Hund «durchs Geschirr» zu seinem Napf, ans Fressen – was sie ja sehr gerne tun. Dabei baue ich sukzessive die Distanz aus: Der Hund schlüpft ins Geschirr und zieht mich zum Futter. Auch bei der Schulung in der Stadt funktioniert das so, die Häppchen sind immer dabei und der Hund hat ein Ziel. Dann geht’s Schritt für Schritt weiter, wir starten langsam mit den Bodenhindernissen; hier arbeiten wir mit Klickern für die positive Verstärkung. Mit dieser Methode können wir den Hunden sehr viel beibringen.

Gespanne fürs Leben | Roland Stadler Blindenführhundeschule Allschwil

Wie sieht ein typischer Tagesablauf aus?

Jeder Ausbildungstag – von Montag bis Freitag – startet um sieben Uhr mit Auslauf: Die Hunde können einfach Hund sein und sich eine halbe Stunde lang mit den Kollegen austoben. Danach folgt ein kleiner Gesundheitscheck im Pflegeraum, Zeckenkontrolle, Fellpflege – ein tägliches Ritual. Anschliessend fahren wir gemeinsam mit dem Transporter in die Stadt, wo jede*r Instruktor*in mit ihren/seinen Hunden individuell trainiert, gemäss dem jeweiligen Ausbildungsstadium.

Nach einem Kaffee im Restaurant – auch das will gelernt sein – sind wir um halb elf wieder zurück. Wir machen einen ausgiebigen Spaziergang, danach ist für die Hunde Siesta angesagt bis zwei Uhr. Diese Ruhezeit ist fürs Lernen sehr wichtig, damit sich die ganzen positiven Eindrücke verfestigen können.

Nach der Siesta wird wieder eine Runde im Auslauf getobt, danach geht’s nochmal zur Schulung, oft ins Dorf, mit anderen Hindernissen und Reizen. Zwischen fünf und sechs ist erneut Spielen angesagt, oder Waldspaziergänge und Begegnungen mit anderen Hunden – auch das liefert uns Informationen zum Verhalten.

Lange Tage, ein volles Programm; wie im «Internat» eben.

Wo sind die Hunde abends und übers Wochenende?

Wie bei vielen Kollegen und Kolleginnen sind meine Hunde bei mir zu Hause. Das ist aber auch abhängig von der familiären Situation. Und wenn ich etwas vorhabe, kann ich Piru – meine aktuelle Schülerin – bestens betreut durch unsere Hundebetreuung in der Schule lassen. Der intensive Kontakt fördert die Bindung, was wiederum bei der Ausbildung hilft.

Wie arbeiten Blinde und Führhund zusammen?

Die blinde oder sehbeeinträchtigte Person muss die Orientierung und den Weg im Kopf haben und diesen mit Kommandos vorgeben – der Hund reagiert auf die Hörzeichen.

«Er kann etwa freie Sitzplätze, Zebrastreifen, Hauseingänge oder Schalter anzeigen. Selbstständig arbeitet der Führhund, indem er die blinde Person sicher um Hindernisse am Boden, seitlich und bis über Kopfhöhe herumführt – oder diese anzeigt, wie zum Beispiel jegliche Stufen.»
Roland Stadler

Auch auf Tiefenhindernisse, die Sturzgefahr bedeuten, macht der Hund mittels «intelligenter Gehorsamsverweigerung» aufmerksam, etwa bei Perronkanten. Immer, wenn der Hund etwas anzeigt, kommt der Langstock zum Einsatz, um das Hindernis abzutasten und einzuschätzen.

Eine letzte Frage: Wie finden sich die sogenannten Gespanne?

Gegen Ende der Ausbildung, die je nach Hund zwischen sechs bis neun Monate dauert, sichten wir die Bewerbungen der Anwärter. Diese haben vorgängig bei uns einen dreitägigen Informationskurs absolviert, man kennt sich also schon. Die Zuteilung ist ebenso wichtig wie die gesamte Ausbildung. Im Team und nach Fairness wird entschieden, wer zusammenpassen könnte. Es folgt ein mehrstufiger Prozess mit Kennenlernen, Einführen, betreutem Training … und nach einem halben Jahr eine gemeinsame Prüfung, nach deren Bestehen der Hund dann offiziell bei der IV als Führhund anerkannt ist.

«Die Hunde bleiben aber im Besitz der Schule; und wir Instruktoren bleiben lebenslang die Ansprech- und Bezugspersonen der Gespanne. So kümmern wir uns auch, wenn der Hund nach rund acht Jahren im Einsatz pensioniert wird, und suchen einen guten Platz für seinen Ruhestand.»
Roland Stadler
Gespanne fürs Leben | Roland Stadler Blindenführhundeschule Allschwil

Während dem ganzen Interview hat Piru geduldig unter dem Tisch gelegen – aber jetzt kommt ihr Auftritt und wir in den Genuss einer kurzen Demonstration ihres Könnens.

Unglaublich, was das Geschirr ausmacht: Von einer Sekunde zur anderen wird aus dem verschlafenen Tier ein absolut wacher und zuverlässiger Führhund – der nach Ablegen des Geschirrs sofort wieder völlig entspannt ist. Eindrücklich!

Schweizerische Schule für Blindenführhunde, Allschwil

Der Zollbeamte Walter Rupp startete Ende der Sechzigerjahre nebenberuflich die Ausbildung von Blindenführhunden. Am 29. September 1972 gründete er die Stiftung Schweizerische Schule für Blindenführhunde in Allschwil. Die Institution beschäftigt heute 57 Mitarbeitende, arbeitet mit unzähligen Freiwilligen zusammen und führt eine eigene Zucht.

Die Begabungen und Charakterzüge unterscheiden sich bei Hunden genauso wie bei Menschen. Rund die Hälfte der Allschwiler Labradore hat das Talent zum Führhund. Die Institution hat deshalb bereits früh Pilotprojekte mit anderen Ausbildungswegen gestartet, um eine grösstmögliche Zahl der eigenen Hunde einem sozialen Zweck zuzuführen. 2002 wurden die ersten Sozialhunde ausgebildet, 2012 folgte die Ausbildung von Assistenz- und Autismusbegleithunden.

Die Schule begleitet ihre Gespanne ein Hundeleben lang. Sie finanziert sich zu einem Grossteil über Spenden, Legate und Erbschaften. Die Beiträge der Invalidenversicherung decken rund ein Zehntel der Gesamtkosten.

Spenden sind immer willkommen – herzlichen Dank!

IBAN CH47 0900 0000 4000 1275 0

Vom Tag der offenen Tür bis zu den Unterstützungsmöglichkeiten:

blindenhundeschule.ch