18. November 2021

Das Kind des anderen

Das Kind des anderen
Lesezeit ca. 5 min

Glaubt man einschlägigen Berichten, soll jedes zehnte Kind ein Kuckuckskind sein. In Wahrheit sind es weit weniger.

Nagender Zweifel

Manch einen Vater befallen Zweifel beim Anblick seines Sprosses. Woher kommen das lockige Haar, die vielen Sommersprossen und der zarte Körperbau? Und warum fühlt sich der Kleine bisweilen so fremd in der Familie? Ist er wirklich von mir?

Kinder von Vätern, die nicht wissen, dass sie das Kind eines anderen Mannes grossziehen, heissen Kuckuckskinder.

Woher stammt der Name «Kuckuckskind»?

Der Name Kuckuckskind lehnt sich an die Verhaltensweise des Kuckucksvogels (Cuculus canorus) an. Das Kuckucksweibchen brütet seine Eier nämlich nicht selber aus, sondern legt sie in die Nester verschiedener Singvögel, die in der Folge ein fremdes Küken grossziehen, ohne es zu merken.

Oft kommt die Wahrheit nie ans Licht. Beginnen die Zweifel zu nagen und erhärtet sich der Verdacht, verlangen nicht wenige Männer einen Vaterschaftstest. Ist das Kind minderjährig, bedarf es hierzulande dafür der Einwilligung der Mutter. Verweigert sie diese, bleibt dem Mann nur der mühsame Gang vor Gericht. Nicht selten zerstört der Vertrauensmissbrauch die Beziehung und löst bei allen Beteiligten eine seelische Krise aus.

Das Kind des anderen

Rechtliche Situation in der Schweiz

In der Schweiz dürfen Männer ihre Zweifel an einer biologischen Vaterschaft nicht heimlich abklären. Anders in Ländern wie Belgien, Österreich oder den Niederlanden, wo heimliche Vaterschaftstests erlaubt sind. Regelmässig werden diese in einschlägigen Foren auch in unserem Land beworben. Nun muss aber mit rechtlichen Konsequenzen rechnen, wer einen Vaterschaftstest hinter dem Rücken der
Partnerin durchführt. Auch halten diese vor hiesigen Gerichten kaum stand, da nicht bewiesen werden kann, dass das analysierte Material tatsächlich von den Betroffenen stammt. Schweizer Interessenverbände fordern deshalb nicht erst seit gestern, dass Vaterschaftstests liberalisiert und entkriminalisiert werden. Bis heute erfolglos.

Geringe Zahl an Kuckuckskinder

Für gewöhnlich kommt es nicht zum Äussersten. Kuckuckskinder sind weitaus seltener als allgemein angenommen. Gleichwohl gab es sie schon immer. Wer regelmässig in der Regenbogenpresse blättert,
weiss um die Geschichten der US-Schauspielerin Liv Tyler, der französischen Sängerin Carla Bruni Sarkozy oder des dänischen Regisseurs Lars von Trier, die alle Kuckuckskinder sind.

«Das Gerücht hält sich hartnäckig, dass jedes zehnte Kind ein Kuckuckskind sein soll. Aktuelle Studien belegen allerdings, dass nur wenige Väter unwissentlich das Kind eines anderen Mannes grossziehen.»
Angela Bernetta

Belgische Wissenschaftler um den Biologen Maarten Larmuseau von der Universität KU Leven haben kürzlich herausgefunden, dass sich der Anteil an Kuckuckskindern in unseren Breitengraden lediglich zwischen ein bis zwei Prozent bewegt. Die Forscher verglichen genetische Informationen von mehr als 1000 flämischen Männern, deren Stammbaum-Daten sich väterlicherseits bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen liessen. Die Erhebung ergab, dass pro Generation nur ein kleiner Teil aller Kinder einen anderen Vater haben, als die Mutter angibt. Interessant ist auch die Tatsache, dass sich diese Zahl nach Einführung der Pille nicht wesentlich verändert hat. Studien aus Spanien, Mali, Südafrika und Italien ermittelten mit ähnlichen Ansätzen vergleichbar geringe Zahlen an Kuckuckskindern.

These des Gen-Shoppings relativiert

Diese Ergebnisse stellen auch, so die Forscher weiter, die These des sogenannten Gen-Shoppings in Frage. Diese geht davon aus, dass Frauen gezielt mit potenten Männern fremdgehen, um ihren Kindern bessere Gene als die des Partners zu verschaffen – und gleichzeitig kein Problem damit haben, ihrem Partner ein fremdes Kind unterzujubeln.

Basierend auf den Studienergebnissen scheinen Frauen treuer oder bei ausserehelichen Aktivitäten zumindest vorsichtiger zu sein als bisher angenommen. Die Verhaltensforscher vermuten, dass die Gründe für die Zurückhaltung der Frauen eher gesellschaftlichen Umständen als dem schlechten Gewissen geschuldet sind. Mögliche Gründe wären beispielsweise die soziale Kontrolle, der ein grosser Teil der Frauen nach wie vor stark ausgesetzt ist oder die fatalen Folgen, die ein Betrug oder eine Lüge für ihr weiteres Leben nach sich ziehen könnten.