Das letzte Wort haben
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Alle medizinischen Möglichkeiten ausschöpfen oder das nahende Ende erdulden? Eine Patientenverfügung hilft den Angehörigen, stimmig zu entscheiden – wenn man selber nicht mehr dazu in der Lage ist.

Meine Mutter wurde 2012 im Zuge ihrer schweren Krebserkrankung auf die Intensivstation eines Spitals eingeliefert. Da wurde mir bewusst: Es war nicht geregelt, ob allenfalls – und das konnte jederzeit geschehen – lebensrettende oder lebensverlängernde Massnahmen ergriffen werden sollten. Nach zwei Tagen wurde meine Mutter auf die medizinische Abteilung verlegt. Bald darauf erhielt sie neues Blut. War das bereits eine lebensverlängernde Massnahme? Dies war der Auslöser, meine Mutter inständig zu bitten, in ein Gespräch einzuwilligen; um eine Broschüre auszufüllen, die – nebst praktischen Aspekten (zum Beispiel zur Bestattung) — auch Fragen rund um die am Lebensende noch gewünschten medizinischen Behandlungen beantwortet. Darauf drängte ich auch zu meiner eigenen Entlastung: Um in ihrem Sinne entscheiden zu können.

Hilfreiche Broschüre

Kurz vor ihrem Tod, nachdem die erste Chemotherapie den Krebs kaum zurückgedrängt hatte, stand die Frage im Raum: Nochmals eine noch weniger aussichtsreiche Chemotherapie, dazu mehrfache Bestrahlung mit anstrengenden Fahrten ins entfernte Universitätsspital? Meine Mutter war zu dieser Zeit schon recht geschwächt, körperlich und mental. Bei den Gesprächen mit den Ärzten hatten wir die Broschüre dabei. Die Notizen halfen bei der Entscheidung, dass eine weitere Behandlung nicht mehr sinnvoll sei.

Nach dem Tod meiner Mutter diskutierte und beantwortete ich diese Fragen für mich und zusammen mit mehreren Personen in meinem nahen Umfeld. Einige taten dies mit etlichem Widerwillen, den sie aber überwanden, weil ihnen der Sinn abrupt bewusst geworden war.

Angehörige entscheiden

Erneut fühlte ich mich erleichtert. Denn seit der Revision des Erwachsenenschutzrechts 2013 entscheiden nicht mehr die Ärztinnen und Ärzte, welche medizinischen Behandlungen noch durchgeführt werden sollen, wenn sich jemand nicht mehr selber äussern kann – sondern die Angehörigen. Und da ist es enorm beruhigend, sich an das gemeinsame Gespräch über diese Themen zu erinnern und auf etwas Schriftliches zurückgreifen zu können. Denn bei so tief greifenden Entscheidungen will man als Angehöriger abgesichert sein.

Barbara Züst, wie gross ist das Interesse an Patientenverfügungen?

Vor 20 Jahren, als ich meine Patientenverfügung erstellt habe, war ich noch eine Exotin. In den letzten Jahren hat das Interesse jedoch zugenommen. Unsere Informationsveranstaltungen werden rege besucht, und wir erhalten mehrere Anfragen pro Woche.

Was wollen die Leute denn wissen?

Oft interessiert sie die Form: Braucht es ein Formular? Nein, das ist nicht notwendig: Man kann die Bestimmungen handschriftlich auf Papier festhalten, wie bei einem Testament. Zudem ist es sinnvoll, die Angehörigen zu informieren und Kopien für sie sowie für den Hausarzt zu machen. Auch der Hinweis, dass eine Patientenverfügung vorliegt – zum Beispiel im Format einer Kreditkarte im Portemonnaie – ist im Notfall hilfreich.

Weiter wollen viele wissen, mit wem sie die Verfügung besprechen sollen. Es ist meist anregend und fruchtbar, sich mit Angehörigen oder Freunden auszutauschen, falls die Offenheit dafür da ist. Diese Offenheit ist oft nicht da, weil sich viele Menschen davor scheuen, sich mit dem Thema Sterben auseinanderzusetzen.

Warum?

Viele Menschen haben Angst vor dem Sterben und verdrängen die Tatsache der eigenen Endlichkeit. Und längst nicht alle stellen sich gerne zum Beispiel der Frage, ob sie nach ihrem Tod ihre Organe zur Verfügung stellen wollen. Zudem beschäftigt man sich ja mit einer Eventualität, wenn man seinen Willen zur medizinischen Behandlung festhält: Vielleicht stirbt man ja schnell und Fragen der Selbstbestimmung am Lebensende tauchen gar nicht auf.

Also braucht man gar nicht unbedingt eine Patientenverfügung, wie das oft suggeriert wird?

Meines Erachtens wird unnötig Druck ausgeübt und die Angst geschürt, dass im Fall der Fälle über den eigenen Kopf hinweg entschieden wird. Meistens können die Sterbenden aber bis am Schluss ihre Wünsche äussern — auch dank der Fortschritte der Palliativmedizin. Hat man Streit mit den nahen Angehörigen, ist eine solche Verfügung jedoch besonders sinnvoll: Kann man doch jemanden ausserhalb der Familie als Vertrauensperson bestimmen. Denn mit dem neuen Erwachsenenschutzrecht, das seit 2013 im Zivilgesetzbuch festgehalten ist, liegt die Entscheidungsbefugnis nun bei den Angehörigen, nicht mehr bei den Ärztinnen und Ärzten.

Wie wirkt sich diese Änderung aus?

Etwas überspitzt könnte man sagen: Früher war die Patientenverfügung ein Schutz vor den Ärzten, heute schützt sie vor den Angehörigen. Es kommt hie und da vor, dass Angehörige mehr medizinische Massnahmen verlangen, als dies die Ärzte für sinnvoll halten. Manchmal spielt auch ein schlechtes Gewissen hinein, dass man sich zu wenig um die Eltern gekümmert hat.

Ist es denn nicht so, dass die Ärztinnen und Ärzte so lang wie möglich Leben retten wollen?

Manchmal ist der ökonomische Druck ausschlaggebend, unter dem die Spitäler stehen. Da ist in meinen Augen eine Veränderung im Gang, verstärkt durch die erwähnten gesetzlichen Änderungen und der entsprechenden Weiterbildung der Ärztinnen und Ärzte. In der Realität kristallisiert sich das weitere Vorgehen oft im Gespräch zwischen Ärzten und Angehörigen heraus.

Habe ich wirklich die Garantie, dass meine Vorgaben umgesetzt werden?

Garantie ist ein grosses Wort. Sagen wir es so: Juristisch gesehen ist der Wille, der in Patientenverfügungen festgehalten ist, verbindlich. Der Arzt muss ihn umsetzen und bei Abweichungen im Patientenbericht Rechenschaft ablegen. Nach unserer Einschätzung wird er relativ gut umgesetzt.

Sie haben gesagt, für eine Patientenverfügung sei gar kein Formular nötig. Trotzdem gibt es in der Schweiz von rund 40 Organisationen Vorschläge, auf welche Aspekte man dabei eingehen soll. Wie findet man sich in diesem Dschungel zurecht?

Man kann ihn grob einteilen. Zum einen gibt es die spezialisierten Patientenverfügungen von Organisationen wie der Krebsliga oder der Alzheimervereinigung. Sie eignen sich, wenn man schwer erkrankt ist. Zum andern gibt es allgemeine Verfügungen von etwa vier bis fünf Seiten, mit denen man die groben Linien herausschälen kann. Und es bestehen ausgefeilte, ausführliche Vorlagen. Die meisten Leute aber wollen, wenn sie gesund sind, ein kurzes, pragmatisches Formular. So können sie sich damit auseinandersetzen und es wieder zur Seite legen. Die Leitlinien zu den Behandlungen am Lebensende sind somit festgehalten. Und man kann sich wieder dem Leben, dem Jetzt, widmen.

Guideline im Dschungel der diversen Patientenverfügungen im Internet:

Kassensturz Espresso vom 23.10.2015: «Patientenverfügung: Wie finde ich die Richtige?» Dort findet sich ein Link zu einem PDF mit einer tabellarischen Übersicht zu Hinterlegung, Vor- und Nachteilen, Kosten.