Defizit an Liebe
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Jeder Mensch hat ein Grundbedürfnis nach Liebe und nach Wertschätzung. Speziell für Kleinkinder ist diese Gefühlserfahrung unverzichtbar. Was, wenn die Mutter an einer Postnatalen Depression erkrankt und dem Kind diese Zuwendung nur bedingt entgegenbringen kann?

Kraft der liebevollen Zuwendung

Die Natur hat es wunderbar eingerichtet, sie stattet die Mütter mit einem Instinkt für ihre Kinder aus. Sie gehen mit ihren Babys fürsorglich, beschützend und liebevoll um und schenken ihnen Geborgenheit. Wissenschaftlich gesehen ist es das Bindungshormon Oxytocin, das die starke Gefühlsbindung zwischen Mutter und Kind schafft; gelegentlich wird es auch als «Kuschelhormon» bezeichnet. Es steigert das Vertrauen und fördert das Wohlbefinden. Durch zärtliches Streicheln wird die Oxytocin-Ausschüttung angeregt, unter seinem Einfluss entspannt sich das Baby. Insbesondere wenn Kinder Hunger oder Beschwerden haben, wirkt Körperkontakt ausgesprochen stressabbauend und beruhigend. Es verleiht ein Gefühl des bedingungslosen Angenommenseins.

«(...) fürsorgliche Zuwendung wirkt stressreduzierend. Verringerung von Stress ist auch für die Gehirnentwicklung wichtig.»
Adrian Zeller

Studien haben nachgewiesen, dass Mädchen und Jungen, die oft gehalten und liebkost werden, weniger häufig krank sind. Ursache dafür ist ein tiefer Spiegel von Cortisol im Körper. Wenn dieses Stresshormon häufig und intensiv ausgeschüttet wird, beeinflusst es das Immunsystem ungünstig und dämpft die Abwehrkräfte; fürsorgliche Zuwendung wirkt stressreduzierend. Verringerung von Stress ist auch für die Gehirnentwicklung wichtig.

Defizit an Liebe

Tabuthema: ausbleibende Mutterliebe

Nicht alle Mütter können diese Mutterliebe entwickeln, die ihr Baby als Nestwärme benötigt. Dies ist ein grosses Tabuthema, betroffene Frauen haben mit Schuldgefühlen zu kämpfen. Sie möchten gute Mütter sein, schaffen es aber nicht. Ein häufiger Grund für das Ausbleiben der mütterlichen Gefühle ist eine Depression. Eine betroffene Mutter erzählt: «Nach der Geburt meines ersten Kindes geriet ich in eine Krise. Während dreier Monate kam ich nur zu ganz wenig Schlaf, da mein Baby Drei-Monatskoliken hatte. Ich ass in dieser Zeit nur wenig.» Dies entkräftete sie sehr, sie geriet in eine Erschöpfungs­depression. «Zusätzlich bekam ich zwei Brust­entzündungen, dies strapazierte mich noch mehr.»

Ihre innere Qual überspielte sie gegenüber ihrem Mann und der Umgebung. Sie wollte nicht zeigen, wie überfordert sie mit der ganzen Situation war. «Ich litt in jener Zeit sehr. Ich fürchtete, der geringste Fehler könnte bewirken, dass das Baby etwa durch eine Infektion lebensgefährlich krank werde.» Sie begann Einladungen abzulehnen, weil sie fürchtete, ihr Kind könnte sich dort anstecken.» Sie brauchte enorm viel Energie, um durch den Alltag zu kommen und mit ihren Ängsten fertig zu werden. Ihr wurde klar, dass ihr Zustand nicht normal sein konnte.

Rund ein Jahr nach der Geburt begann sie eine Gesprächstherapie. «Endlich mit jemandem über meine quälenden Gefühle sprechen zu können, hat mir sehr gutgetan.» Allmählich begann sich ihr Zustand zu bessern. «Im Nachhinein denke ich, wenn ich früher Hilfe gesucht und eventuell die schlimmste Zeit mit Medikamenten überbrückt hätte, wäre die Situation für mich erträglicher gewesen.»

Postnatale Depression erkennen

Die sogenannte Postnatale oder auch Postpartale Depression ist von den Erscheinungsformen her eine Depression wie jede andere auch. Dazu gehören beispielsweise Freudlosigkeit, Ängste, Antriebslosigkeit, Weinerlichkeit, Schlaf- sowie Appetitstörungen und körperliche Beschwerden; die Symptome können individuell verschieden ausfallen.

Nach der Geburt kommt es im Organismus der Mutter zu einer erheblichen hormonellen Umstellung. Es ist oft schwierig zu unterscheiden, welche Veränderungen durch die neue Situation ausgelöst und welche krankheitsbedingt sind. Häufig ist der mit der Mutterschaft einhergehende Schlafentzug Auslöser für Folgeerscheinungen wie Bedrückung oder dem Gefühl, der Aufgabe als Mutter nicht gewachsen zu sein. Es kann auch zu Gereiztheit, Nervosität und innerer Unruhe kommen. Weiter kann sich eine Frau ständig müde fühlen; bereits beim Aufstehen befürchtet sie, den Tag kaum zu schaffen. Wenn die Depression sich weiter verschlimmert, zieht sie sich zurück und mag kaum mehr etwas mit anderen Leuten zu tun haben.

Typisch für eine Postnatale Depression ist ein sehr schwankender Verlauf. An manchen Tagen glauben die betroffenen Frauen, es gehe nun aufwärts, wenig später kommt es dann wieder zu Rückschlägen, in denen sie sich tagelang schlecht fühlen.

Risikofaktoren

Risikofaktoren sind eine durchgemachte Depression in der Vorgeschichte sowie eine Neigung zu dieser Krankheit innerhalb der Familie. Zu weiteren Faktoren gehören auch Belastungen wie finanzielle Unsicherheit, Arbeitslosigkeit des Partners oder ein wenig unterstützungsfähiger Partner, ungünstige Wohnverhältnisse, ein krankes Kind oder andere kranke Familienangehörige.

Weiter kann auch eine Empfindlichkeit auf hormonelle Schwankungen ein Risiko sein. Während der Schwangerschaft steigt der Östrogenspiegel um sein 800-faches im Vergleich zu vor der Schwangerschaft an. Nach der Geburt sinkt er massiv ab. Bei 60 bis 80 Prozent der Mütter kommt es dadurch während einiger Tage zu Weinerlichkeit, Verletzlichkeit und/oder Empfindlichkeit auf Lärm und auf Licht, dem sogenannten «Baby-Blues». Wenn sich eine Depression entwickelt, verschwinden diese Beschwerden nach einigen Tagen nicht von selber, sie verschlimmern sich sogar noch.

Frühzeitig Hilfe annehmen

Ungefähr jede Zehnte bis fünfzehnte Frau entwickelt bereits während der Schwangerschaft eine Depression. Die Auseinandersetzung mit der neuen Rolle als Mutter kann Ängste und Verunsicherung auslösen. Wenn noch weitere Belastungsfaktoren hinzukommen, kann dies die Entstehung depressiver Symptome begünstigen.

Betroffene Frauen können sich an die Stillberatung sowie Frauen- und Kinderärzte wenden, damit sie fachkompetente Beratung erhalten. Falls die Scham zu gross ist, um sich zu offenbaren, bietet die «Dargebotene Hand» anonyme Beratung per Telefon oder Mail an.

Eine Postnatale Depression kann gleich angegangen werden wie jede andere Depression. In erster Linie behandelt ein Arzt psycho­therapeutisch, informiert über die Erkrankung und bezieht die Angehörigen in den Behandlungsprozess mit ein. Entlastungs­massnahmen wie eine regelmässige Fremdbetreuung des älteren Kindes oder auch eine regelmässige Putzhilfe können hilfreich sein. Bei sehr schweren Erkrankungen ist eine Einweisung in eine spezialisierte Mutter-Kind-Station erforderlich.

Neben einer nachgeburtlichen Depression sind eine Suchterkrankung, ein psychisches Leiden wie etwa eine Psychose oder eine Essstörung der Mutter weitere Gründe für ein Unvermögen, dem Kind die nötige Zuwendung und Aufmerksamkeit zu schenken. Unter Umständen müssen die Angehörigen aktiv werden, wenn sie den Eindruck haben, das Kind werde vernachlässigt. Nicht alle betroffenen Mütter haben den Mut, einzugestehen, dass sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind.

Defizit an Liebe

Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung

Eine frühzeitige Behandlung ist für die Mutter und auch für die Entwicklung des Kindes wichtig.

«Kinder, die sich bei ihrer Mutter nicht sicher und geborgen fühlen, wirken ängstlicher und in ihrer Entwicklung verzögert.»
Adrian Zeller

Wie Forschungen gezeigt haben, sind Jugendliche und Erwachsene, die in der früheren Kindheit häufig am Körper der Mutter getragen wurden, deutlich friedfertiger. Im Vergleich mit Gleichaltrigen aus anderen Kulturen wirkten sie auch fröhlicher.

Häufiges Kuscheln sorgt zudem für die Entwicklung eines gesunden und stabilen Selbstwertgefühls. Gleichzeitig fördert es auch das Sozialverhalten. Menschen, die als Kleinkinder viel angenehmen Körperkontakt erlebt haben, können sich gemäss Forschung leichter in Gruppen einfügen, sie gehen offener und vertrauender auf andere Menschen zu. Und sie geraten weniger in Aussenseiterrollen.