29. März 2019

Lernen, auf drei zählen und das dialektische Denken

Lernen, auf drei zählen und das dialektische Denken
Lesezeit ca. 9 min

Wer gar keine oder nur zwei Alternativen denken kann, bleibt in der Entwicklung seiner geistigen Möglichkeiten zurück. Es ist ein grosser Schritt in der Entwicklung der Intelligenz, vom zweidimensionalen Denken in die dritte Ebene vorzustossen; das heisst, vom «Entweder-oder» über das «Sowohl-als-auch» Wege zu kreativen Lösungen zu finden.

Fähigkeit, die Welt zu verstehen

Die erste Welterfassung des Kindes wird geprägt von seinen Mitmenschen, die den Dingen einen Namen geben. Bald lernt es, die benannten Dinge auch in Zusammenhänge zu bringen. Im vorsprachlichen Lernen geschieht dies im geistigen Verbinden eigener Sinneseindrücke und eigener Bewegungen. Daher nannte der Genfer Experimentalpsychologe Piaget die ersten Lebensjahre «senso-motorische» Phase der Intelligenz. Intelligenz lässt sich übersetzen in «Fähigkeit, die Welt zu verstehen» oder in «Einsichtsfähigkeit».

Von Motorik zu Handeln

Die ersten Einsichten, die ein Säugling so gewinnt, sind vermutlich zufälliger Natur. Seine unwillkürlichen Bewegungen treffen die Dinge seiner Welt an. Diese geben ihm Rückmeldung über ihre Beschaffenheit: kalt oder warm, hart oder weich, flüssig oder fest und andere mehr. Aus der Bewegung (Aktion) und den Berührungen, die als Sinneseindrücke ins geistige Zentrum zurückfliessen, entstehen Bilder. Sie bestehen aus einer Erinnerung der motorischen und einer Erinnerung der sinnlichen Erfahrung. Die ersten intelligenten Akte sind die Verknüpfungen dieser beiden Erfahrungen: Der geistige Prozess beginnt mit der Vorstellung, dass meine Bewegung mit diesem bestimmten Sinneseindruck in Zusammenhang steht. Das ist ein in höchstem Masse aufregender Erkenntnisschritt.

Bald beginnen Kinder, solche Erfahrungen einer Überprüfung zu unterziehen. Sie wiederholen die Bewegung und erwarten in der Folge den bekannten Sinneseindruck. Aus diesem Schritt gehen vielfältige Intelligenz-, Gefühls-und Willensprozesse hervor. Auf der geistigen Ebene wird das Experimentieren zum Zweck des Erkenntnisgewinns erworben. Emotional entstehen einerseits Entdeckerfreude und Neugier (Motivation), andererseits Beruhigung und Befriedigung (Sicherheitsempfinden), wenn sich das Experiment als geglückt erweist – Frust und Angst (Misstrauen), wenn es misslingt; denn dann stimmt ja die als sicher geglaubte Ordnung nicht mehr.

Auf der Willensebene geht aus der rein motorisch zufälligen Bewegung das planende Handeln hervor. Sie wird der Grundstein sein, auf dem ich mein Selbstbewusstsein und vor allem meine Selbstsicherheit aufbaue und mir zutraue, mein Leben selber in die Hand zu nehmen.

Lernen, auf drei zählen und das dialektische Denken

Beruhigende Ordnung

Ich bleibe im Folgenden beim emotionalen Aspekt des Denkens. Schon immer ist bekannt, dass es Mut braucht, aus gewohnten Denkbahnen auszusteigen. Wenn die geltende Ordnung, die sich ein Kind noch kriechend aufzubauen beginnt, plötzlich ins Wanken gerät, kehrt die alte Urangst zurück: Ich bin auf Gedeih und Verderben unbekannten Kräften, fremdem Willen und dem Gutdünken der andern ausgeliefert. Ich kann nicht sicher sein, dass ich mein Leben selber beherrsche.

Die bestehende Ordnung! Nun besteht aber diese Ordnung nie für alle Menschen in derselben Form. Was für den einen Sicherheit bedeutet, ist für den andern ein Gefängnis. Was die Mutter allerliebst findet, ist für den Vater – oder gar den Bruder – dummes Zeug. Die häuslichen Ordnungsvorstellungen – sei es beim Aufräumen oder beim Anstand – können stark auseinandergehen. Und erst recht die Kindergärtnerin: Was die für eine Ordnung verlangt, hat schon gar nichts mehr mit dem zu tun, was ich bisher als sicher glaubte und an dem ich mich orientierte. Da ist es ganz zentral, mit dieser Vielfältigkeit umgehen zu lernen: Ambiguitätstoleranz nennt dies die Psychologie: Aushalten können, dass es verschiedene Ordnungen gibt. Wer das nicht kann, muss sich um seines Seelenheiles und seines inneren Friedens willen gegen die «falsche Ordnung» wehren.

Alternativlosigkeit

Wer in sich selber nur ungenügende Selbstsicherheit aufbauen durfte, hat schlechte Karten in einer multikulturellen Welt. Um seine innere Balance zu stabilisieren, kann er nicht neugierig auf unbekannte Ordnungen (Alternativen zum eigenen Lebensvollzug) sein. Er kennt nur die eine Ordnung, die er erlernt hat und die ihm Heimat ist. Eine Zumutung, wenn verlangt wird, diese zu relativieren. Relativieren heisst in Bezug setzen: Es gilt, einerseits das eigene Leben oder die Zustände der Herkunft als zeit- und ortsgebunden zu erkennen; und andererseits unbekannte Lebens- und Ordnungsvorstellungen neugierig in ihrem geschichtlichen Zusammenhang zu untersuchen. Wem das unmöglich ist, verfällt der Alternativlosigkeit.

Sie ist die Folge sowohl geistiger als auch emotionaler Beschränkung, die – so meine These – bei vielen Kindern aus zu früher Überforderung mit diesen Lebensfragen erwächst.

«Verlangen wir von Kindern bereits geistige Prozesse und/oder gefühlsmässige Flexibilität, bevor sie dazu entwicklungspsychologisch fähig sind, so treiben wir sie in eine tiefe Verunsicherung. Diese beschädigt ihre Neugier und behindert ihre Offenheit für die Vielfalt der Welt – oder zerstört sie gar.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Eine Welt, zwei Welten, drei Welten

Die frühe Phase des Lebens braucht Eindeutigkeit. In der Mutter-Kind-Diade (erste Monate) soll zunächst die emotionelle und handelnde Ordnung der Mutter oberste Gültigkeit haben. Je sicherer, angstfreier und ungestörter eine Mutter diese ersten Tage und Monate mit dem Neugeborenen leben kann, desto stabiler ist der Vertrauensgrund in die Welt, der sich im Kind aufbaut.

Eine alternative Welt lernt das Kind – im guten Fall – frühzeitig kennen: Die Welt des Vaters ist seine zweite Heimat. Da spielt es eine riesige Rolle, wie die Eltern ihre zwei Welten zusammenführen. Meist bringt die Erstgeburt alte Kindheitserinnerungen wieder hoch: Oft schlagen sie direkt im Verhalten durch. Können Eltern abweichende Vorstellungen tolerieren, oder beginnen sie sich zu bekämpfen? Fühlt sich ein Elternteil durch den andern drangsaliert? Unterwirft er sich, oder können sie gemeinsam streiten? Zieht sich die eine oder (leider öfter) der andere aus der Welt zu Hause zurück? Antworten auf diese Fragen prägen die früheste Schicht kindlicher Selbstgewissheit oder eben –ungewissheit.

In den kommenden Jahren wird sich ein Kind zunehmend seine eigene Welt basteln. Ist es eine eigenständige, dritte Welt? Dies gelingt besser, wenn die elterlichen Welten nicht identisch sind – aber nicht zu weit auseinanderliegen, oder wenn sie selber Wege gefunden haben, diese Vielfalt zu leben und Gemeinsames daraus zu entwickeln.

Lernen, auf drei zählen und das dialektische Denken

Altersgemässe und schrittweise Entwicklung

Wie erwähnt entwickeln sich geistige Fähigkeiten, indem sie schrittweise aufeinander aufbauen. Dies gelingt umso besser, je gefestigter die jeweiligen Vorstufen entwickelt werden durften, bevor die nächste Herausforderung das bereits Bestehende erschüttert. Bleibt zu wenig Zeit, sich zu konsolidieren, oder werden vor der Zeit zu grosse Integrationsschritte gefordert, bleibt die innere Ordnung brüchig, labil oder zumindest ungesichert.

Die Breite des Themas sprengt das Format des Artikels. Beispielhaft erwähne ich daher nur die moralische Entwicklung: Kleine Kinder bis weit ins Schulalter hinein brauchen eindeutige Schemata wie etwa gut oder böse, richtig oder falsch; und wohl auch Genderschemen (weiblich oder männlich). Die Relativierungen, die in vielen Büchern und Medien den Kindern bereits abverlangt werden, streuen zu früh Unsicherheit. Bevor sie geistig in der Lage sind, ein Sowohl-als-auch zu ertragen – und auf dieser Basis das dialektische Denken zu entwickeln – führen unzeitgemässe Auflösungen klarer Zuordnungen zu früher, und das heisst zu tiefsitzender Verunsicherung. Daraus folgen rigorose Wünsche und fanatische Forderungen nach unverrückbarer Ordnung: Durch Religionen aus vorwissenschaftlichen Jahrhunderten geheiligte Orientierung wird ersehnt, charismatische Führer werden gesucht und unerbittliche Verfolgung Andersdenkender wird wieder heilsversprechend.

«Nochmals: Wer keine Widersprüchlichkeiten ertragen lernt – und dies geführt, peu à peu durch Schulzeit und Adoleszenz hindurch – der kann nicht lernen, neue Lösungen, Ideen und Erfindungen zu entwickeln.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Gerade die Freude daran, dass es verschiedene Ansichten über die Welt gibt und dass diese Tatsache eben nicht bedrohlich, sondern im Gegenteil spannend ist, bildet die Basis für intelligente Menschen, die Gegenwart und Zukunft gestalten wollen und aktiv daran bauen. Sie allein können uns Hoffnung geben, dass die Welt nicht in eine nächste kriegerische Katastrophe gestürzt wird.

Lernen, auf drei zählen und das dialektische Denken

Gelungenes Leben ist dialektisch

Auf dem Boden innerer Sicherheit, dass mir die Gegenwart des Fremden nicht den Boden unter den Füssen wegzieht, kann ich die verschiedenen Ordnungen vergleichen, kann unser Gutes und unser Schlechtes erkennen und in Bezug auf die anderen relativieren. Unsere Vorgehensweisen kann ich an interessanten Lösungen fremder Kulturen messen, und siehe da: Zusammen gibt es oft eine noch bessere Lösung im mitmenschlichen Zusammenleben. Solche Löungsschritte – manchmal riesige, manchmal ganz kleine – halten die Entwicklung des gelungenen Lebens beim Einzelnen und hoffentlich auch in der Menschheit am Laufen.

Wenn das Entweder-oder des digitalen Denkens und die unfruchtbare Toleranz des Sowohl-als-auch zur dritten Dimension der Integration (der dialektischen Synthese) fähig wird, haben wir gute Chancen, als Menschheit zu überleben und vielleicht sogar die Welt besser zu machen, als sie derzeit ist. Die unglaubliche technische Entwicklung der letzten zweihundert Jahre macht es uns vor. Diese müssen wir nun menschlich und gesellschaftlich nachvollziehen und unsere Kinder nicht nur Toleranz lehren, sondern dialektisches Denken: Es kann nur gelingen, wenn sich aus der Synthese von Intelligenz und mitmenschlichen Emotionen eine Zukunftsvision ausbildet!