Die Magie der Stimme
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Unbestechlich ist sie, die Stimme: Sie verrät einiges – oft mehr, als man denkt und sich wünscht. Damit die Stimme stimmt, kann man sie schulen. Doch sie bleibt Ausdruck der eigenen Persönlichkeit: so individuell wie ein Fingerabdruck.

Mitten in der Nacht war es. Ich lag auf dem Bett, über meinem Kopf mein Radio. Samt, seiden, warm, geschmeidig, sonor: So erklang die Stimme des Moderators – Musik. Sie berührte mein Ohr, sie berührte mein Herz. Ich wurde Fan dieser nächtlichen Sendung, vor allem wegen ihr: wegen der Stimme dieses Radiomoderators.

Später, als der Radiomann an einer Ausstellung moderierte, sah ich das Gesicht und den Menschen hinter der Stimme. Enttäuscht war ich. Weg war die Magie. Ohne mir dessen bewusst gewesen zu sein, hatte ich mir – anhand der Stimme – ein Fantasiebild des Moderators gemalt. Ich dachte, er sei grösser, schlanker, habe einen Ausdruck im Gesicht, der mich mehr ansprechen würde. Mit diesem korrigierten Bild hörte ich seine Stimme fortan anders, und bald neigten sich die nächtlichen «Radiohörschwelgmomente» dem Ende zu. Ein Radiomensch bin ich noch immer. Mein Herz schlägt fürs Radio – für Radiostimmen.

Akustische Affinität

Mit der Faszination für die Stimme des Moderators war etwas in mir erweckt worden; das Bewusstsein für meine akustische Affinität: dafür, dass ich intensiv und intuitiv darauf reagiere, wie ein Mensch tönt und klingt, wie er spricht. Darum telefoniere ich gerne. So kann ich mich ganz auf die Stimme einlassen, Ohr sein für Zwischentöne. Videocalls versuche ich zu vermeiden, weil mich das Bild von der Stimme ablenkt. Denn diese ist für mich ein Buch, in dem ich interessiert schmökere – zwischen den Zeilen lese.

Minimale Veränderungen im Gemüt spiegeln sich in unserer Stimme: fröhlich oder melancholisch, aufgeweckt oder müde, nachdenklich, unternehmungslustig. All das vermag ich, aufmerksam hinhörend, in einer Stimme zu lesen. Ist mein Gegenüber aufgeregt, angespannt oder nervös, flattert seine Stimme. Überwältigen ihn die Emotionen, erstickt, versagt sie. Vor Freude überschlägt sie sich. Und ist man müde, drückt sich dies auch über die Stimme aus.

Nicht selten bin ich überrascht, wenn jemand, den ich zuvor übers Telefon gehört habe, vor mir steht. Zwar kann es sein, dass Stimme und Erscheinungsbild übereinstimmen. Trotzdem verlasse ich mich am liebsten auf Informationen, die ich über akustische, vokale Färbungen wahrnehme. Die Stimme zu verstellen, ist schwierig. Man kann nichts kaschieren: nicht durch Kleider, nicht durch Schminke, nicht durch die Frisur, nicht durch Schönheitsoperationen.

Charakteristische Stimme

Hören wir einem Menschen zu, sind wir näher an seinen echten Eigenschaften dran – sind ganz nah dran, wie einzigartig dieser Mensch ist. Wie eine Stimme klingt, wie wir sprechen, ist für jede*n Einzelne*n charakteristisch.

«Auf der ganzen Welt gibt es keine zwei gleichen Stimmen. Keine zwei Sprechweisen sind identisch. Die Stimme ist so individuell und einzigartig wie der Fingerabdruck eines Menschen. Bei aller Vorsicht – trotzdem: Merkmale der Persönlichkeit sind der Stimme anzuhören.»
Marcel Friedli

Über die Ohren ist wahrnehmbar, ob jemand eher ein ängstlicher, angespannter Typ oder stabil, ruhig ist. An der Stimme abzulesen ist auch, ob man extro- oder introvertiert ist: laut, locker, spontan, offen für neue Erfahrungen. Oder leise, zurückhaltend, mit der inneren Welt verbunden, verhalten im Ausdruck, gehemmt.

Dass man so viel preisgibt, ohne es steuern zu können, ist nicht angenehm. Als Jugendlicher habe ich oft leise gesprochen. Das Wechseln der Stimme in eine tiefere Lage verunsicherte mich, weil ich meiner Stimme nicht mehr trauen konnte. Dazu eine generelle Unsicherheit, die ich verbergen wollte – und die sich mit jeder Aufforderung, laut und deutlich zu sprechen, verstärkte.

Bild eines jungen Mannes, der ein Mikrophon hält

Sich selber zuhören

Heilsam war es, dass ich mich mit dem Radiofieber angesteckt hatte: Es zog mich zum Radio. Als bei einer Jugendsendung Nachwuchsjournalistinnen und -journalisten gesucht wurden, meldete ich mich. Der Blick ins Studio, aufs Mischpult, auf die Regler, die rot und grün blinkenden Lämpchen, die Jingles und Trailers – und vor allem das Mikrofon. Von ganz nah sah ich all das. Roch den Schweiss von Liveatmosphäre. Es gelang mir, mit ein paar Fragen aufzufallen. So erhielt ich die Chance für meine ersten Radiointerviews. Kurz darauf initiierte ich eine Jugendsendung beim Regionalradio, das im Dorf stationiert war, in dem ich wohnte. Nun hörte ich meine Stimme regelmässig: über die Kopfhörer und beim Cutten der Sendung oder wenn sie über den Äther ging. Das fühlte sich beklemmend an.

Den meisten geht es wie mir. Es irritiert sie, ihre Stimme zu hören. Sie wirkt auf sie selber fremd. Recht lange brauchte es, bis ich meine Stimme mochte. Dabei halfen positive Rückmeldungen, wie: Deine Stimme klingt angenehm, ich höre dir gerne zu.

Ich probierte einiges aus: variierte die Stimmlage, den Sprechrhythmus, liess Pausen zu. Eine Zeitlang versuchte ich, meine Stimme zu drücken und zu pressen, um älter, erfahrener, seriöser zu klingen.

«Bald merkte ich, dass es nicht stimmig ist, die Stimme zu verstellen. An der Stimme arbeiten, das kann man indes schon. Um zu lernen, ihr zu vertrauen und sich ihren Möglichkeiten anzunähern.»
Marcel Friedli

Eine Zeitlang kam ich in den Genuss von Sprechtraining. Um an der Sprech- und Stimmtechnik zu feilen, ist es unumgänglich, sich selber beim Sprechen zuzuhören, Distanz dazu zu gewinnen. Um dann unter erfahrenem Coaching zu feilen: am Sprechtempo, an der Betonung, an der Atemtechnik. Die Stimme ist nicht isoliert. Sie ist Teil eines Ganzen: des ganzen Körpers, von den Fussspitzen bis zum Scheitel des Kopfes. Ich lernte, mehr auf meine Atmung zu achten – und auf die Haltung des Körpers. Das ist der Grund, weshalb viele Moderierende im Stehen moderieren.

Stimme mit Herz

Ich vermute: Ich verliebe mich dann in einen Menschen, wenn ich seine Stimme mag. Zwar ist es das Gesamtpaket: der Charakter, das Äussere – zentral ist die Stimme. Wie eine Prise Zärtlichkeit, wenn ich mit ihm telefoniere. Oder das Gefühl von Wohligkeit und Geborgenheit, wenn er mir vorliest.

Inwiefern die Stimme bei der Anziehung eine Rolle spielt, wurde mit Studien überprüft. Man fand zum Beispiel heraus, dass sich die Stimmlagen zweier Personen im Laufe des Gesprächs annähern – dies umso stärker, je attraktiver sich zwei Menschen finden.

Mit der Stimme arbeiten

Zurück zum Radio: Meine Radiokarriere dauerte ein paar Jahre. Mit Abschluss des Studiums wechselte ich zum geschriebenen Wort. Und auch wenn ich diesem treu bin – meine Liebe zur akustischen Schwester ist geblieben. Mit gespitzten Ohren lausche ich den Stimmen der Sprecher*innen. Auf einige reagiere ich allergisch, wobei ich versuche, diese Antipathie zu relativieren. Bei anderen kann ich nicht anders als hinhören und schwelgen.

Das Sprechen, die Arbeit und das Arbeiten mit der Stimme sind Teil meines Wirkens. Seit vierzehn Jahren unterrichte ich Yoga. Ich sehe mich als Übenden und Lernenden: versuche, mit der Stimmlage zu spielen, mit Pausen, mit dem Rhythmus. Wie früher beim Radio. Yoga anzuleiten, bereitet mir deutlich mehr Vergnügen, als (Bad) News zu verkünden.