18. November 2021

Die späten Jahre geniessen

Die späten Jahre geniessen
Lesezeit ca. 8 min

Im dritten Lebensabschnitt eröffnen sich neue Möglichkeiten für die Lebensqualität. Was trägt zum Genuss im Alter bei?

Verzerrte Vorstellung vom Altsein

Die Vorstellung vom Altern und die Wirklichkeit weichen erheblich voneinander ab. In einer Studie sollten Personen um die Vierzig angeben, wie sich Siebzigjährige fühlen. Die Befragten stellten verschiedene Beschwerden wie etwa chronische Gelenkschmerzen sowie Vergesslichkeit in den Vordergrund.

Als dagegen die Seniorinnen und Senioren befragt wurden, ergab sich ein anderes Bild: Laut dieser Untersuchung fühlen sich viele 70-Jährige oder ältere Personen im Alter mehrheitlich zufriedener als in jungen Jahren, obwohl sie von Leiden wie Diabetes, Gelenkbeschwerden, Herz-Kreislauf-Problemen oder einer Tumorerkrankung betroffen sind.

Der dritte Lebensabschnitt eröffnet neue Frei- und Entwicklungsräume, die zu einer neuen Lebensqualität führen können. Das Alter werde viel zu oft verzerrt als Abschied von den guten Seiten des Lebens verstanden, wurde die Situation kürzlich an einer Tagung auf den Punkt gebracht.

«Noch nie lebten Menschen im Alter so lange und so gut wie heute. Laut Forschung fühlen sich viele Ältere im Durchschnitt um zehn Jahre jünger als ihr tatsächliches Alter beträgt.»
Adrian Zeller

Gute Gesundheitsversorgung

Gemäss einer Studie fühlen sich rund ein Viertel aller Pensionierten in der Schweiz sehr wohl. 60 Prozent fühlen sich immerhin gut, lediglich 15 Prozent haben Grund zur Klage. Zum Vergleich: Rund 25 Prozent der Jugendlichen klagen über psychisches Unwohlsein. Gemäss Zahlen des Bundesamtes für Statistik geben vier von fünf Personen zwischen 65 und 74 Jahren an, mit ihrem Leben zufrieden bis sehr zufrieden zu sein. Eine Reihe von weiteren Untersuchungen kommt zu ähnlichen Ergebnissen.

«Die Altersforscher nennen dieses Phänomen das «Zufriedenheitsparadox». Gemeint ist die Fähigkeit, trotz gesundheitlichen Handicaps eine gute Lebensqualität zu erreichen. Daran ist die moderne Medizin wesentlich beteiligt.»
Adrian Zeller

Dank Herzschrittmachern, Hüftprothesen, Bestrahlungen und weiteren Errungenschaften können Menschen mit verschiedenen Leiden ein schmerzarmes und aktives Leben führen. Eine als Heidelberger Hundertjährigen-Studie bekannt gewordene Untersuchung ergab, dass Menschen selbst im Greisenalter im Durchschnitt nicht unglücklich sind. Von den befragten Hochaltrigen wollen 86 Prozent das Beste aus ihrer aktuellen Lebenssituation machen. Manche setzen sich sogar Ziele, dies im Wissen, dass sie deren Erreichung nicht mehr sicher erleben werden. In diesem Alter kann etwa die Geburt des Urenkels ein angestrebtes Ziel sein. Ältere Menschen versuchen laut Forschung ihre Aufmerksamkeit auf angenehme Personen und Erfahrungen zu richten und Negatives so gering wie möglich zu halten.

Bild eines Grossvaters, der sein neugeborenes Enkelkind in den Armen hält

Anpassung an Umstände

«Gemäss Untersuchungen ist die sogenannte Selbstregulation für die Zufriedenheit entscheidend. Damit ist die Fähigkeit zur Anpassung an veränderte Umstände gemeint. Aufgrund ihrer langen Lebenserfahrung gelingt es älteren Menschen besser, die Widrigkeiten des Lebens zu relativieren und zu akzeptieren.»
Adrian Zeller

Diese Anpassung schaffen nicht alle Pensionierten gleich gut. Wie eine geglückte Anpassung an veränderte biologische Umstände funktioniert, erklärte der Pianist Arthur Rubinstein im Alter von 80 Jahren beispielhaft. Er wurde nach dem Rezept gefragt, weshalb er im höheren Lebensalter noch immer erfolgreich konzertieren könne. Seine Antwort: Er spiele weniger Stücke, so müsse er weniger im Kopf behalten, zweitens übe er diese häufiger, und drittens spiele er die schnellen Passagen extra langsam, dies lasse die langsamen bedeutungsvoller und die schnellen schneller erscheinen.

Wie das Beispiel von Arthur Rubinstein veranschaulicht, ist das Loslassen von zu ehrgeizigen Zielen eine Fähigkeit, die viele ältere Menschen beherrschen. Dies reduziert Stress und Anspannung; wer sehr hohe Ziele anvisiert, überfordert sich leicht selber. Menschen im Pensionsalter müssen niemandem mehr etwas beweisen, müssen nicht mehr für ihre berufliche Karriere sorgen, ihre Verantwortung ist geringer, und kein Vorgesetzter treibt sie an. Damit wird ihr Alltag weniger von äusseren Anforderungen bestimmt, Seniorinnen und Senioren können ihr Leben selbstbestimmter gestalten. Niemand schreibt ihnen vor, wie rasch sie den Rasen gemäht oder die Fenster geputzt haben müssen; die Redewendung «Eile mit Weile» bekommt im Alter eine stärkere Bedeutung.

Bild von älteren Herren, die gemeinsam Karten spielen

Es ist die Zeit der Musse, in der man Ausflüge unternimmt, die Geselligkeit pflegt, moderaten Sport treibt, Freiwilligenarbeit leistet oder Passionen, wie etwa dem Garten, dem Musizieren oder dem Restaurieren von alten Möbeln nachgeht.

Zeit für die Enkel

Für viele Menschen ist das Zusammensein mit den Enkeln sehr erfüllend. Über 90 Prozent der befragten Grosseltern und Enkel schätzten den gegenseitigen Kontakt als sehr wichtig ein. Wie Untersuchungen gezeigt haben, können Kinder mit regelmässigem Kontakt zu ihren Grosseltern auf einen grösseren Wortschatz zurückgreifen, sie gelten als sozialkompetenter und ihre Schulnoten sind besser. Sie haben mehr Verständnis für ältere Menschen und haben ein positiveres Bild vom Alter. Wer sich in der zweiten Lebenshälfte vital fühlt, kann mit den Enkeln auf unterschiedlichste Weise aktiv sein. Heute sind es oft Grosseltern die den Kleinen das Schwimmen oder das Velo fahren beibringen. Auch Besuche im Zoo, im Erlebnispark sowie Schifffahrten, Wanderungen mit Picknick oder Grillfeuer sind beliebte gemeinsame Abenteuer. Im Winter setzt man sich auch mal gemeinsam auf den Schlitten. Weitere beliebte Aktivitäten bei den Kindern sind gemeinsames Kochen, Backen und Spielen.

Allerdings: Während die Grosseltern oft davon ausgehen, sie müssten ihren Enkeln viele interessante und abwechslungsreiche Aktivitäten bieten, wollen diese laut Umfragen in erster Linie, dass Opa und Oma ganz einfach da sind und Zeit für sie haben.

«Die Grosseltern sind so etwas wie der ruhende Pol, während die eigenen Eltern oft von der Hektik des Alltags mit seinen vielen Aufgaben und Pflichten auf Trab gehalten werden.»
Adrian Zeller

Aus Sicht der Enkel sind vor allem die Stabilität der Beziehung, das Vertrauensverhältnis sowie die uneingeschränkte Akzeptanz durch die Grosseltern wichtig. In der Grosseltern-Enkel-Beziehung kommt Qualität vor Quantität.

Ziele verfolgen

Nicht alle älteren Menschen können Zeit mit den Enkeln verbringen, diese wohnen möglicherweise weit weg, sind schon grösser und haben andere Interessen, oder aber es gibt gar keine Enkel. Es braucht andere Möglichkeiten der Beschäftigung. Die viele Zeit, die im Alter zur Verfügung steht, will sinnvoll strukturiert sein. Andernfalls kann es zu Unzufriedenheit und eventuell Paarkonflikten kommen, weil man sich gegenseitig einschränkt und auf die Nerven geht.

Bild einer älteren Dame, die online Gitarre spielen lernt

Das Verfolgen von Zielen scheint ein Schlüsselwort für Zufriedenheit und ein erfülltes Alter zu sein. Der Sozialwissenschaftler Eckart Hammer lehrt an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg. Gemäss seinen Erkenntnissen braucht es Projekte, die über einen Zeitvertreib hinausgehen.

«Für ihn ist im Alter die Langeweile die grösste Herausforderung. Forscher haben schon vor einiger Zeit den Zusammenhang zwischen Unterbeschäftigung und erhöhtem Risiko zur Demenz nachgewiesen.»
Adrian Zeller

Soziale Kontakte pflegen

Im Weiteren sind soziale Kontakte sehr wichtig, das Gefühl für eine Person oder für mehrere Menschen wichtig zu sein, trägt laut Experten wesentlich zum psychischen Wohlbefinden bei. Beziehungsarmut kann Gesundheitsstörungen nach sich ziehen. In der Familienphase und während der Berufsjahre ergeben sich immer wieder zwischenmenschliche Kontakte, im dritten Lebensabschnitt muss man sich aktiv um sie bemühen. Mitgliedschaften in Vereinen und Freiwilligenarbeit sind gute Möglichkeiten, um mit anderem Menschen in Beziehung zu treten. Wichtig ist dabei, dass man echtes Interesse an anderen Personen zeigt und nicht vor allem von eigenen Krankheiten und Sorgen spricht.