15. Januar 2021

Die verflixte Zeit

Die verflixte Zeit
Lesezeit ca. 9 min

Der Umgang mit der Zeit ist gar nicht immer so einfach.

Neu gewonnene Zeit

Die letzten Monate waren schon etwas speziell! Der Corona-Käfer hat den Alltag vieler Menschen durcheinandergebracht. So auch bei mir. Kurse und Seminare sind abgesagt worden, ebenso Konzerte und natürlich auch die entsprechenden Proben. Und so stand auch ich an mehreren Tagen quasi vor dem Nichts. Aufstehen, duschen, einen Kaffee trinken … und jetzt? Was soll ich jetzt tun?

«Die ganze Planung ist Makulatur, meine Agenda hätte ich schon anfangs April in den Abfall werfen können. Praktisch alles durchgestrichen. Was bleibt, ist die Zeit. Viel Zeit sogar.»
Albin Rohrer

Und so sitze ich auf dem Sofa, die Beine hochgelagert und mache mir Gedanken über die Zeit. Über meine Zeit, die ich jetzt plötzlich in Hülle und Fülle habe. Auf einem alten Kalender finde ich dann noch den passenden Spruch dazu: «Das Wertvollste im Leben ist die Zeit. Leben heisst, mit der Zeit richtig umgehen zu können.» Das klingt gut, denke ich. Doch was bedeutet das jetzt konkret für mich? Was heisst es, «mit der Zeit richtig umgehen zu können»?

Zehn Uhren

Als erstes fällt mir auf, dass in den heutigen Tagen die Zeit wohl eine viel grössere Bedeutung hat als früher. Das erkennt man schon daran, dass wir von unzähligen Uhren umgeben sind, und dass diese vielen Uhren manchmal auch ein wenig stressen. Also was mich betrifft: Ich besitze eine Armbanduhr, eine Uhr am Natel, eine am Computer, eine an der Stereoanlage, eine am iPod, eine Uhr im Auto, einen Radiowecker, eine Wetterstation mit eingebauter Funkuhr, eine Uhr hängt im Korridor, eine in der Küche … Mehr als zehn (!) Uhren besitze ich. Dazu kommen noch alle öffentlichen Uhren: an allen Bahnhöfen, an Tankstellen, in Einkaufszentren, Kirchenuhren … Also an Uhren mangelt es uns garantiert nicht.

Doch: Schon mehrmals ist mir auch aufgefallen, dass diese hohe Anzahl Uhren nicht zwingend zur Beruhigung beiträgt. Im Gegenteil: Es kann auch verwirren. Die Armbanduhr zeigt 14.58, die Uhr am Auto 14.56, diejenige am Bahnhof 14.59 und gemäss meinem Natel wäre es jetzt schon 15.00 Uhr. Was stimmt jetzt? Wie viel Uhr ist es jetzt? Und: Ist es eigentlich wichtig, genau zu wissen, wie viel Uhr es ist?

Wie ich schon gehört habe, soll es Uhren geben, die problemlos Tausendstelsekunden messen können. Haben Sie sich auch schon versucht vorzustellen, wie lange eine Tausendstelsekunde dauert? Mir graut dieser Gedanke – und manchmal denke ich, wie schön es früher gewesen sein muss, als es noch gar keine Uhren gab. Da krochen die Menschen doch einfach aus ihren Höhlen, wenn es hell wurde oder die Hähne krähten; und wenn es dunkel wurde, gingen sie wieder schlafen. Und wie haben sie sich verabredet? Vielleicht sagten sie einfach, dass sie sich dann treffen würden, wenn die Sonne ganz oben am Himmel stehe oder wenn der letzte Schnee geschmolzen sein würde …

Die verflixte Zeit

Was ist Zeit?

Für Isaac Newton bildet die Zeit einen «Behälter für Ereignisse». Er sagte Folgendes: «Die Zeit ist, und sie tickt gleichmässig von Moment zu Moment.» Können Sie dem zustimmen? Ich finde, dass diese Aussage sicher stimmt, doch eine wirkliche Antwort auf meine Frage gibt diese Definition nicht. Für mich bleibt die Zeit immer noch etwas ziemlich Geheimnisvolles und Rätselhaftes.

Da gefällt mir die Definition von Augustinus schon besser. Auf die Frage, was denn eigentlich die Zeit sei, hat er so geantwortet: «Solange mich niemand danach fragt, ist’s mir, als wüsste ich es. Doch fragt man mich und soll ich es erklären, so weiss ich es nicht.» Ich weiss es auch nicht. Was ich aber weiss ist, dass ich oft das Gefühl hatte, viel zu wenig davon zu haben. Und jetzt plötzlich habe ich das Gefühl, fast zu viel davon zu haben. Natürlich weiss ich auch, dass ein Gefühl etwas Subjektives ist; und dass, wenn ich dieses Gefühl habe, es noch lange nicht so sein muss, dass andere dieses Gefühl auch haben.

Ich möchte noch so vieles

Sehr oft musste ich in den vergangenen Jahren schmerzhaft feststellen, dass ich gerne viel mehr Zeit gehabt hätte, als ich tatsächlich hatte. Ganz schlimm war beispielsweise immer der Aufenthalt in einer grossen Buchhandlung. Da sah ich unzählige Bücher, die ich am liebsten sofort gekauft und gelesen hätte. Doch wann soll ich denn all diese Bücher lesen? So viel Zeit hätte ich doch gar nie, das würde wohl Jahrzehnte dauern.

Ausserdem hätte ich schon lange gerne mindestens zehn Sprachen erlernen wollen, darunter Chinesisch, Griechisch und Russisch, damit ich auch in diesen Sprachen noch hätte Bücher lesen können. Da ich aber nicht zu den Hochbegabten gehöre, dürfte das Erlernen nur einer dieser Sprachen einen derart grossen Zeitaufwand für mich bedeuten, dass ich alles andere – auch ganz Alltägliches und Wichtiges – liegenlassen müsste.

Die verflixte Zeit

Doch das ist noch längst nicht alles: Gerne hätte ich auch noch einmal einen längeren Trip durch eine Wüste wagen wollen; ich wollte schon immer Sibirien, die Mongolei und Alaska bereisen; ich wäre gerne einmal den ganzen Jakobsweg gelaufen (dazu sind drei Monate notwendig), ich wäre gerne nach Argentinien gefahren, um richtig Tango spielen zu lernen; gerne hätte ich einmal ein Jahr in Griechenland verbracht, um das Spiel auf der Bouzouki zu erlernen, ich möchte wieder einmal meine Wohnung neu streichen, selber Möbel herstellen; ich möchte jeden Tag zwei Stunden Zeit haben, um mich sportlich zu betätigen, ich möchte viel Zeit haben für meine Kinder und Grosskinder und für alle meine Bekanntschaften; ich möchte schon lange meine unzähligen Fotos endlich einmal ordnen, ich möchte noch ein zweites Buch schreiben … ich möchte noch dies … ich möchte noch das … ich möchte noch so vieles …

Ich wollt‘ ich wär eine Kuh

Mensch sein ist nicht immer einfach … Ich habe mir auch schon überlegt, wie es wäre, wenn ich eine Kuh wäre. Dann fielen wohl alle besagten Wünsche hinsichtlich Sprachen, Instrumente, Bücher und Reisen ins Wasser. Da wäre ich doch einfach zufrieden, wenn ich Gras zum Fressen hätte, schlimmstenfalls würde ich darauf warten, gemolken zu werden – und weitere problematische Fragestellungen wären hinfällig. Tja, warum bin ich eigentlich ein Mensch und keine Kuh?

Apropos Kuh: Es soll einmal – so erzählt man sich in Deutschland – einen Bauern gegeben haben, der sein Wasser im Gehen auf dem Feld abzuschlagen pflegte. Auf die Frage nach dem Grund seines doch ziemlich sonderbaren Verhaltens meinte er, dass er auf diese Weise pro Jahr einen ganzen Tag einspare … Wie wäre das eigentlich bei mir? Oh Gott, nein, diese Idee muss ich schleunigst fallen lassen. Ich bin ja nicht als Bauer auf einem Feld tätig, ich schreibe Texte, mache Musik und erteile Seminare. Wenn ich mir jetzt angewöhnen würde, genau so wie besagter Bauer mein Wasser während der Arbeit abzuschlagen …

Zeitmanagement

Mittlerweile ist es halb zehn Uhr. Über eine Stunde bin ich nun auf dem Sofa gesessen und habe mir Gedanken über die Zeit gemacht. Noch bestehen für mich bezüglich des Umgangs mit der Zeit offene Fragen. Da fällt mir noch ein, was einst der römische Philosoph Seneca gesagt hatte:

«Es ist nicht wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen.»
Seneca
Römischer Philosoph und Schriftsteller (verst. 65 n. Chr.)

Ja, das könnte stimmen, gerade in den letzten Monaten. Etwas weiss ich jetzt aber sicher: Eine Kuh möchte ich nicht sein; meine ganze Zeit mit Kauen zu verbringen, wäre mir dann doch zu wenig. Noch nicht sicher weiss ich, was ich mit der vielen Zeit tun soll. Ideen hätte ich ja viele (diese habe ich ja schon erwähnt). Jetzt würde es also nur noch darum gehen, Prioritäten zu setzen.

Für alles erwähnte reicht meine Lebenszeit leider nicht mehr, das wäre ja für drei oder vier Leben schon fast zu viel. «Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es», schrieb einst Erich Kästner. Genau! Dieser Gedanke bringt mich weiter.

«Und so nehme ich mir vor, einfach eines nach dem andern anzupacken, wohlwissend, dass es für alles sicher nicht mehr reicht.»
Albin Rohrer

Ich kaufe Farbe, Pinsel und Abdeckfolie und beginne, mein Wohnzimmer neu zu streichen. Während dieser Arbeit habe ich ja die Möglichkeit, mir über die weiteren Tätigkeiten Gedanken zu machen …