Vielleicht meine ich das nur, weil ich schon etwas älter bin, vielleicht ist es aber wirklich so: Die Welt wird offenbar zunehmend komplizierter …
Nachdem die Corona-Massnahmen weitestgehend aufgehoben sind, möchte ich auch wieder einmal etwas erleben, statt nur immer zu Hause zu hocken. Und so mache ich mich auf einen Ausflug in die Ostschweiz. Nach einem längeren Spaziergang habe ich Lust auf einen Kaffee und finde ganz zufällig ein Restaurant am See. Wie es scheint, ist das ein neueres Gebäude. Top modern eingerichtet, gross, hell und ausgestattet mit ganz speziellen Bildern und Skulpturen. Einrichtungen sind ja bekanntlich Geschmacksache. Mir gefällt das Interieur nicht besonders, doch meine Lust auf einen Kaffee ist zu gross, um in diesem Moment darauf verzichten zu können. Ausserdem habe ich noch ein anderes Bedürfnis …
Also setze ich mich an einen Tisch, bestelle meinen Kaffee und während der Kellner meine Bestellung besorgt, mache ich mich auf den Weg ins Untergeschoss. Dort sollen nämlich die Toiletten sein. Tatsächlich sehe ich dort drei Türen. Auf einer Türe klebt ein Schild «privat», die beiden anderen Türen sind auch mit je einem Schild gekennzeichnet. Uiuiui … aber was bedeuten jetzt diese beiden Schilder …? Klar, eine dieser Zeichnung bedeutet sicher «Herren», das andere Schild müsste dann logischerweise «Damen» bedeuten. Doch mir gelingt es tatsächlich nicht, diese beiden supermodernen Kritzeleien auseinanderzuhalten. Woran könnte ich jetzt erkennen, welches Schild für die Damen und welches für die Herren gilt? So stehe ich einen Moment ratlos vor den Türen. Dann kommt plötzlich eine ältere Dame mit dem gleichen Bedürfnis wie ich, und auch sie steht ratlos vor diesen beiden Schildern, beziehungsweise vor diesen beiden Türen. Wir blicken uns kurz an und wissen nicht so recht, ob wir jetzt über diese Situation lachen oder uns ärgern sollten. Schliesslich öffne ich eine Türe und siehe da: Ich habe zum Glück die richtige Türe erwischt, ich erblicke nämlich zwei Pissoirs. Also endlich kann ich das tun, was ich tun muss.
Nachdem ich das getan hatte, was ich tun musste, will ich noch die Hände waschen. Doch so banal das klingt, so einfach ist es dann leider nicht. Ich stehe vor einem Lavabo mit einem ziemlich ungewohnten Wasserhahn. Ein top modernes Design hat es. Die Frage ist jetzt nur, wie man dieses Ding bedient. Ich halte meine Hände unter diesen undefinierbaren Stöpsel, in der Hoffnung, dass dann ein Sensor meine Hand erkennt und dass dann das Wasser fliesst. Doch weit gefehlt. Es läuft gar nichts. Also muss ich irgendetwas tun. Ich drücke von oben auf den Hahn. Das geht nicht. Ich ziehe das Ding nach oben. Geht auch nicht. Ich drehe daran, zuerst nach rechts. Geht nicht. Ich drehe nach links. Geht auch nicht. Ich drücke diesen scheusslichen Stöpsel nach hinten. Geht auch nicht. Vielleicht nach vorne? Fehlanzeige, auch das geht nicht. Ich überlege einen Moment und das Ding beginnt mich zu nerven.
Drücken, ziehen, drehen und stossen kann es nicht sein. Wenn also eine Bewegung nichts bringt, braucht es offensichtlich eine Kombination von mehreren Bewegungen. Vielleicht muss ich darauf drücken, und gleichzeitig drehen? Oder daran ziehen und gleichzeitig drehen? Oder nach hinten drücken und gleichzeitig drehen oder nach vorne ziehen und gleichzeitig drehen? Oder vielleicht sogar daran ziehen und gleichzeitig drücken und drehen …? Oder daran stossen, heben und auf die andere Seite drehen …?
Ja, endlich, jetzt geht etwas! Tatsächlich fliesst jetzt Wasser aus diesem Hahn. Was ich jetzt genau getan habe, kann ich schon nicht mehr nachvollziehen. Und leider ist mir das Wasser noch etwas zu warm, ich hätte es gerne kälter. Also versuche ich es noch einmal. Mit drücken, drehen, daran stossen, ziehen, gleichzeitig ziehen und drücken, gleichzeitig stossen und drehen, vielleicht auch gleichzeitig heben, drücken und drehen …?
Endlich sind meine Hände gewaschen. Aber wie stelle ich das Ding jetzt wieder ab? Das will ich jetzt gar nicht mehr wissen, im Restaurant steht nämlich sicher schon mein Kaffee bereit und diesen will ich warm trinken, nicht kalt. Ich lasse das Wasser laufen und mache mich auf den Weg zurück ins Restaurant – und mache mir dabei schon noch ein paar Gedanken. Wer – um Himmels Willen – kommt auf die Idee, einen solchen Wasserhahn zu entwickeln? Und wer ist bereit, einen solchen Wasserhahn herzustellen? Welcher Innenarchitekt wählt für ein neues Gebäude einen solchen Wasserhahn aus? Was will man damit bezwecken? Einfach modern sein?
Oder die Kundschaft des Restaurants ärgern? Müsste man den Designer, den Hersteller, den Innenarchitekten und den Wirt dafür nicht mit einem mindestens 20-jährigen Berufsverbot bestrafen? Ich weiss es nicht, ich weiss nur, dass ich mich jetzt ein wenig geärgert habe und ich denke mit Wehmut an die Zeiten zurück, in denen ein Wasserhahn noch wie ein Wasserhahn aussah und ich diesen noch ohne Bedienungsanleitung an- und abstellen konnte. Links ein einfacher Griff für das warme Wasser (rot markiert), rechts ein Griff für das kalte Wasser (blau markiert), nach links drehen, zum Öffnen und nach rechts drehen zum Schliessen und in der Mitte der Wasserhahn. Tja, die Welt wird offenbar komplizierter. Mit einem solchen Wasserhahn werden die Hände nicht sauberer – und das in der heutigen Corona-Zeit, wo doch Hygiene gross geschrieben wird …
Vor einem ähnlichen Problem stand ich übrigens kürzlich schon, als ich eine top moderneParkuhr bedienen wollte. Zu allem Übel hatte ich meine Brille nicht dabei. Ich sah dann nur ganz verschwommen etwa zwanzig kleine Piktogramme und eine Tastatur mit dem gesamten Alphabet und den Ziffern von 0 bis 9. Dazu ein Display. Die Bedienungsanleitung war derart kompliziert verfasst, dass man hätte glauben können, ein Chinese hätte diese nach seiner ersten Deutschlektion als Prüfung schreiben müssen. Ich schaffte es tatsächlich nicht, diese Parkuhr zu bedienen. Und so liess ich es darauf ankommen. Ich liess mein Auto auf dem Parkplatz stehen, ohne etwas zu bezahlen. Hätte ich eine Busse erhalten, dann hätte ich mich bei der entsprechenden Stadtverwaltung beschwert und verlangt, dass mir jemand die Bedienung dieser Parkuhr erklärt hätte.
«Panta rhei» (alles fliesst), sagten schon die Griechen. Ich bin nicht sicher, ob sie das auch so formuliert hätten, wenn sie gewusst hätten, welche Wasserhähne wir im 21. Jahrhundert entwickeln. Vielleicht hätten sie dann den Satz anders formuliert: «Fast alles fliesst». Oder vielleicht: «Vieles fliesst gut, anderes fliesst weniger gut». Oder noch besser: «Alles fliesst gut, ausser das Wasser aus neuen Hähnen».
Wie auch immer: Die Welt bewegt und verändert sich – und das ist auch gut so. Leider aber verändert sich nicht unbedingt immer alles zum Besseren. Manchmal stelle ich mir schon die Frage, wer Ideen für derartige neue Kreationen (zum Beispiel bei Wasserhähnen oder Parkuhren) hervorbringt.
Oder meine ich das nur, weil ich jetzt nicht mehr ganz so jung bin? Allerdings: Es gibt Menschen, die noch 20 oder 30 Jahre älter sind als ich. Wie gehen wohl sie mit solchen unmöglichen Kreationen um? Könnte es sein, dass schon bald alle, die über 50 Jahre alt sind, nur noch zu Hause bleiben müssen, weil sie die Parkuhren nicht mehr füttern und im Restaurant den Wasserhahn nicht mehr bedienen können …?
Hoffentlich nicht!