25. Juni 2021

Digital oder analog?

Digital oder analog?
Lesezeit ca. 8 min

Unser Leben wird zunehmend digitaler. Das hat Vorteile. Aber auch Nachteile. Eine persönliche Betrachtung auf Sinn und Sinnlichkeit …

Für jüngere Menschen mag es selbstverständlich erscheinen, dass unsere Welt zunehmend digitaler wird: E-Banking, digitales Bezahlen an der Kasse, E-Mail und Whatsapp, Navigationssysteme, E-Books, Google-Maps, Facebook, unpersönliches Einkaufen im Internet … Kaum ein Bereich, der davon nicht betroffen ist. Ältere Personen, jedoch (so wie ich zum Beispiel) erinnern sich noch gut an die Zeiten vor der Digitalisierung, an die Zeiten,in denen das Leben noch analog passierte, vieles noch gemächlicher ablief und vieles noch anders war, als es heute ist. Diese Erinnerungen lösen manchmal nicht nur eine Sehnsucht nach den «guten alten Zeiten» aus, sie können ebenso Fragen nach dem Sinn der fortschreitenden Digitalisierung aufwerfen. Jedenfalls bei mir.

Vor- oder Nachteil?

Ich weiss, die Welt verändert sich stetig. Wenn sie das nicht täte, würden wir wohl heute noch in Höhlen wohnen, wilde Tiere jagen und diese dann am Abend am Feuer zubereiten. Wer möchte das denn schon?
Es liegt offenbar in der Natur des Menschen, sich weiterzuentwickeln. Vieles hat sich im Laufe der Menschheitsgeschichte verändert, einiges ist besser geworden, einiges aber auch schlechter. Ob die Digitalisierung aber nur Vorteile mit sich bringt, wage ich zu bezweifeln, ich sehe darin durchaus auch einige Nachteile …

Zwischenmenschliche Begegnungen

Knapp dreissig Jahre ist es her, dass ich mit meiner Partnerin ein paar Tage in Sizilien verbringen will. Wir fliegen von Zürich nach Catania, wo wir am Flughafen unseren Mietwagen abholen können. Damit geht es weiter Richtung Siracusa, wo wir ein Hotel gebucht haben. Im Mietwagen liegt eine Strassenkarte der Stadt. Allerdings entpuppt sich diese als sehr rudimentär. Kreuz und quer fahren wir durch die Stadt, verfahren uns in engen Gassen, müssen in Einbahnstrassen umkehren und werden unsicher. An schlecht beschilderten Kreuzungen fahren wir ein paar hundert Meter zurück und wissen schliesslich überhaupt nicht mehr, wo wir sind.

Digital oder analog?

An einer Tankstelle halten wir an und sprechen einen jungen Sizilianer an: «Scusa, può dirci dove si trova l’hotel Gogola» (Entschuldigen Sie, können Sie uns sagen, wo das Hotel Gogola ist). Er überlegt einen Moment, lächelt uns an, setzt sich auf seine Vespa und sagt: «Folgen Sie mir, ich führe Sie zu diesem Hotel». Gesagt, getan. In einem angenehmen Tempo fährt er voraus und führt uns sicher durch das Gewühl der Stadt, bis vor die Eingangstüre des gesuchten Hotels. Wir bedanken uns und möchten ihm ein Trinkgeld geben, welches er jedoch ablehnt. Dafür erzählt er uns noch dies und jenes über die Stadt («das müssen Sie sich unbedingt anschauen, dort müssen Sie essen gehen, jenes sollten Sie auch nicht verpassen …»). Es entwickelt sich ein wunderbares Gespräch mit einem wildfremden, aber äusserst hilfsbereiten und freundlichen Sizilianer. «Molte grazie per il vostro aiuto» (Vielen Dank für Ihre Hilfe), sagen wir ihm, worauf er mit «Non c’è di che» (keine Ursache) antwortet.

«War das jetzt eine wunderbare Begegnung! Kaum an einem fremden Ort angekommen, ergibt sich schon ein persönlicher Kontakt und ein interessantes Gespräch mit einem Einheimischen. Genau das will man doch erleben, wenn man in die Fremde fährt!»
Albin Rohrer

Und wie wäre das, wenn ich heute in Siracusa ein Hotel suchen müsste? Ganz einfach: Ich würde das Navigationsgerät im Mietauto einschalten und auf dem kürzesten Weg zum gesuchten Hotel fahren. Ich hätte dann vielleicht eine Stunde Zeit gespart, allerdings wäre mir eine so interessante und herzliche Begegnung mit einem Sizilianer verwehrt geblieben. Tja, wie gross sind jetzt bei diesem Vergleich die Vor- beziehungsweise Nachteile der Digitalisierung?

Sinnlichkeit pur

Seit einigen Jahren sind sie schon auf dem Markt. Die elektronischen Bücher. Man sagt, das sei sehr handlich (vor allem müsse man nicht mehr kiloweise Bücher in die Ferien mitschleppen). E-Books seien auch sehr praktisch, weil man auf minimalem Platz ganz viel Bücher speichern und jederzeit abrufen könne. Natürlich stimmen diese Argumente, doch ich würde nie im Leben ein E-Book lesen. Niemals! Und warum? Auch wenn es altmodisch scheint, doch ein Buch ist für mich etwas sehr Sinnliches. Wie schön ist es doch, in einem Buchladen ein Buch anzuschauen, darin zu blättern, es dann zu kaufen, zu Hause auszupacken, das Papier in den Händen zu spüren, die Drucker­schwärze zu riechen, mit einem Leuchtstift wichtige Stellen zu markieren, ein Buchzeichen einzulegen, das Buch auf den Nachttisch zu legen (mit der wunderschönen Titelseite nach oben), es dann später wieder in die Hände zu nehmen … Sinnlichkeit pur ist das für mich.

«Auch wenn es altmodisch scheint, doch ein Buch ist für mich etwas sehr Sinnliches. Wie schön ist es doch, in einem Buchladen ein Buch anzuschauen, darin zu blättern (...)»
Albin Rohrer

Und wo wäre denn die Sinnlichkeit bei einem E-Book? Dort sehe ich sie kaum. «Sinnlichkeit erzeugt den Sinn im Leben», schrieb der Philosoph Wilhelm Schmid in seinem Buch über die Gelassenheit. Wie wahr doch! So nehme ich es gerne in Kauf, auch bei meinen nächsten Ferien (sofern die Corona-Pandemie, das überhaupt zulässt), wieder ein paar schöne (und schwere!) Bücher in die Koffer zu packen und diese in die Ferien mitzuschleppen.

Persönliche Wertschätzung

So richtig aufgefallen ist mir das wieder einmal bei meinem letzten Geburtstag: Eine Postkarte und einen Brief habe ich erhalten, dazu unzählige Mitteilungen per E-Mail, SMS oder Whatsapp. Natürlich habe ich mich auch über all diese elektronischen Glückwünsche gefreut, sie waren allesamt ja sehr gut gemeint. Am meisten freuten mich aber der Brief und die Karte. Wie schön war es doch, den Briefkasten zu leeren und dann diesen Brief und die Karte in die Hände zu nehmen. Aufgrund der Schrift auf dem Umschlag wusste ich sofort, woher der Brief kam. Ich öffnete ihn und las ihn mit grösstem Vergnügen. Handge- schrieben, sehr persönlich mit einer kleinen Zeichnung versehen und unterschrieben. Die Handschrift zeigte mir aber auch noch etwas: Da ich die Person, die den Brief geschrieben hat, sehr gut kenne, konnte ich aus der Handschrift auch die momentane Befindlichkeit erahnen. Gleiches galt auch für die Postkarte. Und was mich besonders freute: Einen Brief oder eine Karte zu schreiben ist zeitlich viel aufwendiger als schnell eine E-Mail zu versenden. Das heisst: Diese zwei Personen haben sich Zeit genommen, um mir Glückwünsche zu schicken, was ich letztlich als wahre Wertschätzung und Zuneigung betrachtete.

Digital oder analog?

Noch gut erinnere ich mich an die Zeiten vor der Digitalisierung. Da war es noch selbstverständlich, einen Brief oder eine Postkarte zu verschicken. Zum Beispiel in den Ferien. In einem Souvenirladen suchte man nach geeigneten Karten für bestimmte Personen, man kaufte Marken, setzte sich in ein Strassencafé, bestellte einen Espresso, schrieb von Hand die Texte auf die Karten, leckte die Briefmarken ab, spürte den Leim auf der Zunge, klebte die Marken auf die Karten und störte sich auch nicht daran, wenn an den Rändern der Marken danach nicht nur Leim, sondern auch Kaffee klebte … Und dann gab es noch etwas zu tun! Wo ist ein Briefkasten? Einen Briefkasten zu finden und ihn auch als solchen zu erkennen, war in vielen Ländern gar nicht so einfach. Doch genau das fand ich jeweils spannend.

Und heute? Man sitzt in einem Hotel und schickt per Whatsapp Nachrichten in die Heimat. Ist ja auch okay, aber irgendwie halt doch etwas plump und fade …

Tja, die Digitalisierung … sie scheint unaufhaltsam fortzuschreiten. Sie bringt tatsächlich Vorteile. Vieles geht schneller, vieles geht genauer, vieles ist einfacher geworden. Vieles geht aber auch verloren, vieles ist unpersönlich geworden, viel Zwischenmenschliches bleibt auf der Strecke, das Sinnliche fehlt zunehmend, die Welt wird irgendwie kälter. Schade …