30. September 2022

Wenn das Kinderzimmer verwaist ist

Wenn das Kinderzimmer verwaist ist
Lesezeit ca. 8 min

Flügge werdende Kinder stellen im Familienleben einiges auf den Kopf. Wie lässt sie sich diese Phase meistern?

Sabine Derungs und ihre Tochter Michelle (Namen geändert) haben ein sehr ambivalentes Verhältnis zueinander. Sie sind wie beste Freundinnen, kennen intimste Gefühle und Wünsche voneinander. Gemeinsam haben sie glückliche und auch schwierige Phasen durchlebt; dies schweisst zusammen. Doch in den letzten Monaten kriselte es öfter zwischen den beiden. «Du verhältst dich hier wie ein Hotelgast», wirft Sabine Derungs ihrer 19-jährigen Tochter vor. «Du könntest auch mal den Staubsauger in die Hand nehmen oder den Geschirrspüler ausräumen. Alles bleibt immer an mir hängen.» Die Standpauken der Mutter haben bisher zu keiner wesentlichen Verhaltensänderung bei der Tochter geführt.

Sabine Derungs ärgert sich nicht nur über die Passivität der Tochter im gemeinsamen Haushalt, sondern macht sich innerlich Vorwürfe. Sie hätte mit Michelle bereits vor Jahren konsequenter sein sollen, findet sie. Der Vater von Michelle hat die Familie wenige Monate nach der Geburt verlassen. Er suchte selten Kontakt. Sabine Derungs wollte dem Mädchen dennoch eine unbeschwerte, möglichst sorgenfreie Kindheit ermöglichen. Deshalb erfüllte sie ihr manchen Wunsch und war sehr nachsichtig mit ihr. Heute glaubt sie, dass sie die Quittung für die verwöhnende Haltung erhält. Die mittlerweile erwachsene Tochter will auf die umsorgende Haltung der Mutter nicht verzichten und auch keine Gegenleistung dafür erbringen. Dies frustriert die Mutter.

Veränderung der Eltern-Kind-Beziehung

Das Erwachsenwerden der eigenen Kinder beschert vielen Eltern widersprüchliche Gefühle: Die Söhne und Töchter richten sich allmählich ihr eigenes Leben ein; die jahrelange Fürsorge und die Erziehungsbemühungen beginnen Früchte zu tragen. Die Eltern können sich etwas entspannen, ihre Verantwortung lässt nach. Es eröffnen sich neue Freiräume für sie selbst. Mit dem Auszug der Kinder verlässt auch ein Stück Leben das Zuhause. Wie die Pubertät ist auch das Flüggewerden eine Übergangsphase: Ein Lebensabschnitt geht zu Ende, ein neuer zeichnet sich allmählich ab.

Die zunehmende Veränderung der Beziehung zwischen Eltern und ihren erwachsen werdenden Kindern kann zu einem anspruchsvollen Prozess werden. Die frühere Abhängigkeit der Kinder wandelt sich zu einer Beziehung auf Augenhöhe unter selbstständigen Erwachsenen.

Junge Frau trägt Umzugskartons

Anspruchsvolle Abnabelung

Für manche Eltern wird diese schrittweise Abnabelung zum herausfordernden Balanceakt zwischen Fürsorge und Eigenständigkeit. Mischen sie sich zu sehr in das Leben ihrer heranwachsenden Kinder ein, handeln sie sich eventuell den Vorwurf der Bevormundung ein. Fragen sie zu wenig nach, sehen sie sich mit der Kritik der Gleichgültigkeit konfrontiert. Oft braucht es sehr viel Fingerspitzengefühl, um die Zuwendung richtig zu dosieren.

Mütter und Väter haben das natürliche Bedürfnis, ihre Söhne und Töchter vor Leid zu bewahren. Gelegentlich ist es jedoch zweckmässiger, sich in eine Fehlentscheidung nicht einzumischen. Die Bewältigung dieses Fehltritts kann die Reifung der jungen Erwachsenen fördern. Manche Kinder müssen auf schmerzhafte Weise erfahren, als Volljährige für ihre Handlungen selbst verantwortlich zu sein. Sie können nicht mehr darauf zählen, dass ihre Eltern in schwierigen Lagen stets mit Rat und Geld einspringen.

Empty-Nest-Syndrom

Beim Auszug der flügge gewordenen Kinder sprechen Fachleute vom «Empty-Nest-Syndrom» oder «Leeres-Nest-Syndrom». Die Eltern verlieren durch den Auszug der Kinder ihre Aufgabe im Alltag und damit ein Stück Selbstbestätigung. Dies kann Verunsicherung und Zukunftsängste auslösen. Einige Eltern geraten in eine innere Krise, die sich unter Umständen bis zu einer Depression ausweiten kann.

In ihrer inneren Not klammern einzelne Mütter ihre Töchter und Söhne vermehrt an sich. Sie bewirtschaften das «Hotel Mama» mit einem Wasch-, Koch- und Zimmerservice. Damit sollen die erwachsenen Kinder weniger den Drang nach Auszug entwickeln. Dies kann beide Seiten in ein psychisches Dilemma stürzen, da die natürliche Entwicklung blockiert wird. Die jungen Erwachsenen fühlen sich innerlich zerrissen: Einerseits spüren sie das Leiden der Mutter, die in ihrer Rolle gefangen ist; andererseits möchten sie die Welt entdecken und unabhängig werden. Manche Töchter und Söhne lösen sich aus der Einengung, indem sie ins Ausland gehen, um grosse räumliche Distanz zu schaffen.

«Wie Untersuchungen ergeben haben, sind Frauen, die sich vor allem auf ihre Mutterrolle konzentriert und wenig ausserhäusliche Aktivitäten gepflegt haben, gefährdeter, in einen quälenden Zustand zu fallen, wenn die Kinder ausziehen.»
Adrian Zeller

Einige Mütter beginnen überstürzt eine Ausbildung, um ihrem Leben eine neue Perspektive zu geben. Gemäss Fachleuten kann es dabei zu Überforderung kommen. Bei vielen Frauen liegt das Lernen in einer Ausbildung längere Zeit zurück – entsprechend anspruchsvoll ist die Aufnahme von viel neuem Wissen.

Mutter verabschiedet sich von Tochter

Weniger bekannt ist, dass auch Väter eine psychische Erschütterung oder Verunsicherung erfahren können.

«Insbesondere Männer, die um die Zeit des Erwachsenwerdens der Kinder beruflich stark eingespannt sind, haben plötzlich den Eindruck, viel von der Entwicklung ihres Nachwuchses verpasst zu haben.»
Adrian Zeller

Überstunden und Geschäftsreisen standen oft in Konkurrenz mit gemeinsamen Besuchen von Sportveranstaltungen oder Familienausflügen. Einige Männer zweifeln, ob sie ihre Vaterrolle ausreichend erfüllt haben. Sie entwickeln unter Umständen Schuldgefühle. Einige dieser Väter kümmern sich später intensiv um ihre Enkelkinder. Auf diese Weise wollen sie ausgleichen, was sie ihren eigenen Töchtern und Söhnen nicht geben konnten.

Herausforderung für die Partnerschaft

Der Auszug der Kinder bedeutet für die Eltern sowohl als Individuen als auch als Paar einen grossen Veränderungs­prozess. Für diese Übergangsphase ist Zeit und Geduld erforderlich. Das Paar muss zu einem neu gestalteten Alltag finden, in dem die Kinder lediglich Besucher, nicht mehr aber Teil des Haushaltes sind. Nicht immer gelingt diese Übergangszeit in der Partnerschaft ohne Nebengeräusche.

Mann und Frau haben sich nichts mehr zu sagen

Unter Umständen tritt nun eine bereits länger schwelende Entfremdung der Eltern deutlich zutage. Diese Krise kann das Ende der Partnerschaft bedeuten.

«Gemäss Statistik lässt sich rund ein Viertel der Paare nach 20 Ehejahren scheiden. Ziehen die Kinder aus, fällt die letzte Klammer weg, welche die Paarbeziehung zusammengehalten hat.»
Adrian Zeller

Die Kinder haben über Jahre viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen; dies lenkte von der erkalteten Beziehung zwischen den Eltern ab. Unter Umständen hilft eine beratende Begleitung durch eine eine Familientherapeutin oder eine Paartherapeuten, die Beziehung wieder zu beleben und mit neuen Inhalten und Perspektiven zu füllen.

Umstrittene Deutung der Situation

Unter Fachleuten ist das Leere-Nest-Syndrom umstritten. Kritiker argwöhnen, die Pharmaindustrie in den USA habe einen natürlichen Vorgang in ein behandlungsbedürftiges Krankheitsbild umdeuten wollen, um den Absatz von Antidepressiva, Beruhigungsmittel und Schlaftabletten zu steigern.

Tatsache ist, dass der Auszug der Kinder unterschiedlich erlebt wird und es kein Patentrezept dafür gibt, wie man damit am besten umgeht: Jede Mutter und jeder Vater muss seinen eigenen Weg entwickeln.