08. Oktober 2021

Entscheide ich richtig?

Entscheide ich richtig?
Lesezeit ca. 8 min

Ständig müssen wir Entscheidungen treffen, aber nicht immer möchten wir das. Die zentrale Frage bei Entscheidungen ist folgende: Soll ich mit dem Kopf oder mit dem Bauch entscheiden?

Von kleinen und grossen Entscheidungen

Die Sache ist manchmal verflixt! Ständig müssen wir Entscheidungen treffen, aber nicht immer möchten wir das. Es gibt leichte und schwere Entscheidungen, es gibt wichtige und weniger wichtige Entscheidungen, es gibt – wie wir oft erst nachträglich erkennen – richtige und falsche Entscheidungen. Viele Entscheidungen müssen (oder dürfen) wir alleine treffen, andere aber treffen wir gemeinsam in einer Gruppe oder in einer Beziehung. Manchmal besteht die Gefahr, dass wir zu früh entscheiden, manchmal aber auch leider zu spät. Es gibt Situationen, bei denen wir zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden müssen, oft aber gibt es sogar mehr als zwei Möglichkeiten. Und manchmal entscheiden wir nicht. Doch auch das ist eine Entscheidung. Dann nämlich entscheiden andere für uns. Oder die Umstände treffen eine Entscheidung. Also alles in allem: Wir stehen ständig vor Entscheidungen, ob wir wollen oder nicht.

Kaum sind wir aufgestanden und haben den ersten Kaffee getrunken, müssen wir uns schon entscheiden. Das blaue oder das weisse Hemd? Die beigen oder die schwarzen Schuhe? Wie ist das Wetter? Was habe ich heute vor? Elegant oder sportlich? Natürlich sind das keine Entscheidungen, die unser Leben in den Grundzügen verändern, doch ganz leichte Entscheidungen sind es dann ja auch nicht immer. Wer steht schon gerne irgendwo mit den völlig falschen Kleidern und schwitzt, friert oder hat das Gefühl, völlig falsch angezogen zu sein.

Weitreichende Konsequenzen

Etwas schwieriger wird es dann schon, wenn es etwa um eine Arbeitsstelle, um eine Wohnung oder um eine Beziehung geht. Soll ich meinen Job kündigen und das neue, verlockende Angebot annehmen? Oder soll ich bleiben? Soll ich die Wohnung wechseln? Oder soll ich diese Beziehung eingehen oder doch nicht?

Das Unangenehme bei solchen Entscheidungen ist die Tatsache, dass wir nie ganz genau wissen, welche Konsequenzen eine solche Entscheidung haben werden. Etwa bei einer neuen Arbeitsstelle. Natürlich haben wir im Vorstellungsgespräch viel über die Stelle erfahren, wir kennen den Arbeitsort, den Chef, die Mitarbeiter, doch ob uns eine Arbeit dann auch tatsächlich gefällt und ob alle Umstände im Grossen und Ganzen passen, wird erst die Erfahrung zeigen. Gleiches gilt für eine neue Wohnung oder auch für eine Beziehung. Nicht selten sind wir hin und hergerissen. Wir diskutieren mit Freunden. Der eine rät uns das, der andere dieses, die eigene Unsicherheit kann dabei noch grösser werden. Oder wir haben Angst, die Entscheidung zu treffen, weil wir nicht genau wissen, welche Folgen die Entscheidung haben wird. Vielleicht entscheiden wir dann auch zu spät. Zum Beispiel bei einer neuen Wohnung. Nach reiflicher Überlegung rufen wir nach einer Woche den Vermieter an und melden unser Interesse für die Wohnung an. Doch jetzt ist es zu spät, die Wohnung ist schon vermietet. Das Gleiche kann auch bei einer Arbeitsstelle passieren.

Entscheide ich richtig?

Kopf oder Bauch

Die zentrale Frage bei Entscheidungen ist folgende: Soll ich mit dem Kopf oder mit dem Bauch entscheiden? Wiegen für mich Fakten schwerer als Gefühle? Kenne ich alle Fakten oder kann ich mich auf meine Gefühle wirklich verlassen? Erliege ich nicht irgendwelchen Täuschungen und Illusionen?

Es gibt Menschen, die vor allem sehr rational entscheiden. Sie wägen die Fakten ab und machen sich im Extremfall sogar eine Liste mit Plus- und Minuspunkten. Zum Beispiel bei einer Wohnung. Der Preis, die Grösse der Wohnung, der Anfahrtsweg, die Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe, die Aussicht und so weiter. Schliesslich kann Bilanz gezogen werden. Auf der einen Seite die Pluspunkte, auf der anderen Seite die Minuspunkte. Die Entscheidung wird getroffen.

Es gibt aber auch Menschen, die eher emotional entscheiden. Sie achten eher auf ihre Gefühle. Wie fühle ich mich, wenn ich in der neuen Wohnung in der Küche oder auf der Terrasse stehe? Wie fühle ich mich, wenn ich das Haus betrete oder verlasse? Wie wohl ist es mir, wenn ich mit dem Vermieter diskutiere?

Antonio Damasio, amerikanischer Neurowissenschaftler, Hirnforscher und Psychologe, spricht diesbezüglich von «somatischen Markern».

Unter «somatischen Markern» versteht er Signale, die uns der Körper schickt, wenn es um Entscheidungen geht.

Positive somatische Marker wären zum Beispiel ein Wohlgefühl im Bauch, ein Gefühl von Entspanntheit, Leichtigkeit und ein Wärmegefühl.

Negative somatische Marker wären ein Druck im Bauch oder im Nacken, ein Engegefühl, schwerer Atem, vielleicht sogar ein Zittern oder ein starkes Schwitzen.

Damasio ist fest davon überzeugt, dass bei Entscheidungen niemals nur Fakten zählen sollten, sondern dass wir unbedingt unsere Gefühlslage berücksichtigen sollten. «Der Verstand», sagt Damasio, «ist ein guter Diener, aber ein schlechter Herr!» Ähnlich sah es auch der berühmte Psychoanalytiker C.G. Jung. In seinem Dialog zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein schrieb er Folgendes:

«Inhalte aus dem emotionalen Erfahrungsgedächtnis (Körpergefühl) und die bewusste Verstandestätigkeit sollen miteinander koordiniert werden, und zwar so, dass die Entscheidung ein Wohlbehagen auslöst.»
C.G. Jung
Psychoanalitiker

Spannendes Experiment

An der Universität Kalifornien führten Hirnforscher ein spannendes Experiment durch: Sie bildeten zwei Gruppen mit je zehn Personen. Eine Gruppe bestand aus Finanzspezialisten (Banker, Analysten,  Börsianer), die andere Gruppe aus Finanzlaien. Beide Gruppen erhielten einen grösseren Geldbetrag und die Aufgabe, dieses Geld so schnell wie möglich gewinnbringend an der Börse anzulegen. Und so machten sich die Gruppen an die Arbeit. Die Finanzspezialisten analysierten den Markt, die Börse, sie erstellen Grafiken und rechneten alles bis ins letzte Detail und trafen dann die Entscheidung, wie sie das Geld anlegen wollten. Die Laien diskutierten und entschieden praktisch nur aus dem Bauch. Und siehe da! Die Laien erwirtschafteten mit ihrer Taktik tatsächlich den deutlich höheren Gewinn. Die Übungsleiter staunten – und die Spezialisten auch…

«Ganz überraschend aber ist das Resultat nicht. Wir wissen zwar, dass es viele sehr intelligente Menschen gibt, wir wissen aber auch, dass unser Verstand begrenzt ist und dass wir mit unserem Verstand nur einen kleinen Bruchteil der gesamten Wirklichkeit erfassen können. Wir hören nicht alle Töne, wir sehen nicht alle Farben und wir können uns vieles gar nicht wirklich vorstellen.»
Albin Rohrer

Ganz überraschend aber ist das Resultat nicht. Wir wissen zwar, dass es viele sehr intelligente Menschen gibt, wir wissen aber auch, dass unser Verstand begrenzt ist und dass wir mit unserem Verstand nur einen kleinen Bruchteil der gesamten Wirklichkeit erfassen können. Wir hören nicht alle Töne, wir sehen nicht alle Farben und wir können uns vieles gar nicht wirklich vorstellen. Wenn wir zum Beispiel versuchen, uns eine Million Jahre oder 200 Tonnen vorzustellen, dann wissen wir eigentlich nur, dass eine Million Jahre sehr lange und 200 Tonnen sehr schwer sind, doch die genaue Vorstellung dieser Grössen fehlt uns komplett!

Einschneidende Erfahrung

Und schliesslich noch etwas Persönliches: Viele Jahre ist es jetzt her, als ich eine schwerwiegende berufliche Entscheidung treffen musste. Bald merkte ich, dass sich mein Kopf (Verstand) und mein Bauch (Gefühl) absolut nicht einig waren. Der Kopf, sagte «Ja» («das, ist gut, jenes ist vorteilhaft, dieses ist ja auch geklärt, das kommt sicher gut»). Der Bauch sagte «Nein» («mach das nicht, ich weiss auch nicht genau, weshalb, doch, das kommt nicht gut»). Dem Bauch fehlten leider die Argumente und so verliess ich mich auf die Signale des Verstandes und sagte zum Projekt «Ja». Ein halbes Jahr später stürzte dann alles in sich zusammen. Ich erlebte quasi die totale Apokalypse in sämtlichen Lebensbereichen (es war ja auch alles mit diesem Projekt verknüpft). Alles ging schief, alles ging verloren. Und dann wurde mir klar: Mein Bauch wusste es, er sah es kommen. Warum um Himmelswillen habe ich mich auf meinen kleinen, mickrigen Verstand und nicht auf mein Gefühl verlassen?

Seither übergehe ich bei grossen Entscheidungen mein Gefühl nicht mehr. Ich weiss jetzt, dass ich mich bei wichtigen Entscheidungen auf mein Gefühl verlassen kann. Auf den Verstand alleine aber sicher nicht…