03. März 2023

Etwas lassen können …

Etwas lassen können  ...
Lesezeit ca. 7 min

Es gibt immer wieder Dinge, die wir einfach nicht ändern können.

Die Kunst der Gelassenheit

Während des Lockdowns waren wir damit ganz heftig konfrontiert. Das Restaurant für die geplante Geburtstagsfeier war geschlossen, die Kinos auch, das Konzert abgesagt, die Theatervorstellung ebenso und auch ein Besuch bei der Grossmutter war nicht möglich. Immer wieder gibt es Situationen im Leben, die wir einfach nicht ändern können. Das Wetter, das Älterwerden, das Warten im Stau, ein plötzlicher Unfall und vieles mehr. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Wir werden unruhig, nervös und sind gestresst, oder wir bleiben ruhig und gelassen.

«Gelassenheit ist die Fähigkeit, in schwierigen und unveränderbaren Situationen ruhig zu bleiben und die Haltung zu bewahren. Wer das nicht kann, der leidet.»
Albin Rohrer

Gelassenheit bedeutet Abgeklärtheit, Bedacht, Beherrschung, Besonnenheit, Fassung, Geduld, Gefasstheit, Gleichgewicht, Gleichmut, Langmut, Ruhe, Selbstbeherrschung, Umsicht, Zurückhaltung. Doch etwas bedeutet Gelassenheit sicher nicht: Gleichgültigkeit!

Keine Resignation

Auch wenn Gelassenheit und Gleichgültigkeit oft in einen Topf geworfen werden, haben sie miteinander gar nichts zu tun (obschon diese beiden Verhaltensweisen oft verwechselt werden). Gleichgültigkeit bedeutet Resignation und Frust. «Das ist mir doch egal» oder «das interessiert mich jetzt nicht mehr». Gleichgültigkeit heisst immer, dass wir uns von einer Situation oder von einem Umstand resigniert abwenden und nichts mehr damit zu tun haben wollen. Es bleibt dann ein eher negatives und ungutes Gefühl zurück. Wir ärgern uns und werden unzufrieden.

Bei der Gelassenheit sieht es ziemlich anders aus. Über Gelassenheit verfügen wir dann, wenn wir einer Tatsache ins Auge schauen können, wenn wir uns damit auseinandersetzen können, wenn wir darüber reden können, dabei aber stets innerlich ruhig bleiben. Im Falle des eingangs erwähnten Lockdowns würde das Folgendes bedeuten: Wir akzeptieren die momentane Situation, auch wenn wir es uns anders gewünscht hätten und bleiben dabei ruhig. Wir ärgern uns nicht, wir fluchen nicht, wir suchen keine Schuldigen, sondern wir sehen der Tatsache ins Auge.

Menschen, die gelassen bleiben können, sind übrigens für andere Menschen viel leichter zu ertragen als gleichgültige und entsprechend frustrierte und unzufriedene Menschen. Wenn wir über ein genügendes Mass an Gelassenheit verfügen, können wir bei uns selbst bleiben und strahlen entsprechend eine angenehme Ruhe und Sicherheit aus; egal, wie unruhig sich die äusseren Umstände darstellen.

Etwas lassen können …

Ändern oder hinnehmen?

Können wir denn in völliger Gelassenheit leben? Die meisten können das wohl kaum. Und das ist auch nicht notwendig, denn wir können und dürfen auch nicht immer einfach alles gelassen hinnehmen. Das wäre Bequemlichkeit und oft auch verantwortungslos. Es gibt nämlich immer wieder Situationen, in denen nicht Gelassenheit gefragt ist, sondern in denen wir uns wehren müssen. Wenn uns zum Beispiel die Autogarage für eine Reparatur eine viel zu hohe Rechnung stellt, dann ist Gelassenheit nicht angebracht. In dieser Situation müssen wir reagieren oder dürfen uns wehren. Anständig, mit Respekt, aber klar.

Allerdings ist es nicht immer einfach, wie wir entscheiden sollen, gibt es doch viele Situationen, in denen auf den ersten Blick nicht ganz klar ist, ob jetzt eher Gelassenheit oder eher Aktivität angebracht ist. Zum Beispiel dann, wenn wir uns für eine neue Arbeitsstelle beworben haben und dann ein paar Tage nichts hören. Was ist jetzt besser? Sich telefonisch zu melden oder einfach ruhig und gelassen zu bleiben und zu warten? Beides kann richtig sein, beides kann aber auch falsch sein.

Der amerikanische Priester Reinhold Niebuhr hat diese Frage mit einem Gebet auf den Punkt gebracht:

«Lieber Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und gib mir die Weisheit, das eine vom anderen unterscheiden zu können.»
Reinhold Niebuhr
amerikanische Priester, 1892 – 1971

Der letzte Punkt dieses Gebets dürfte wohl der schwierigste sein …

Selbstfindung

Mit dem Thema «Gelassenheit» haben sich auch schon die Stoiker auseinandergesetzt. Die berühmte «stoische Ruhe» besagt, dass wir heikle Situationen idealerweise ohne negative und aufgeregte Gefühlsregungen bewältigen sollten. Aus Sicht der Stoiker ist es unvernünftig, Nichtveränderbares ändern zu wollen. Zudem, so sagen sie, sei das Glück nicht planbar und es gehe im Leben in erster Linie darum, ganz bewusst in der Gegenwart zu leben: «Das Leben in Gelassenheit ist das Leben in der Gegenwart», sagen sie. Und was das Glück betrifft: Wir alle wollen ja möglichst immer glücklich sein.

«Wenn wir aber permanent krampfhaft dem Glück hinterherjagen, dann verlieren wir irgendwann unsere Gelassenheit und damit auch die Fähigkeit, uns mit unserer Situation einigermassen glücklich fühlen zu können.»
Albin Rohrer

Es gibt auch Theorien, in denen die Gelassenheit als «Selbstlösung» oder auch als «Selbstfindung» interpretiert wird. So bringt zum Beispiel der Philosoph Martin Heidegger den Begriff der Gelassenheit mit dem Begriff «Heimat» in Verbindung. Zudem sah er auch einen Zusammenhang mit der aufkommenden Technikbegeisterung, bei der aus seiner Sicht die Gelassenheit verloren zu gehen droht. Diese These hat sich offensichtlich bewahrheitet.

Die modernen Kommunikationsmittel sind ein Beispiel dafür: Sehr viele Menschen unserer Zeit hängen permanent am Internet oder an einem Smartphone und kaum ist eine neue Meldung erschienen, glauben sie, sofort reagieren zu müssen. Pausenlos sind sie im digitalen Kontakt mit anderen. Dann ist es um die Gelassenheit definitiv geschehen. Es herrscht ein permanenter Druck, alles immer sofort lesen zu müssen und dann auch noch so schnell wie möglich zu antworten. Gut ersichtlich ist das immer beim Fliegen: Kaum ist das Flugzeug irgendwo gelandet, hängen sämtliche Passagiere schon an ihren Geräten …

Etwas lassen können …

Nichtanhaften

«Zuerst muss man lassen können, um dann gelassen zu sein», sagte der Mystiker Meister Eckhart. Er meinte damit, dass gelassene Menschen sich nicht von einem Vorher und einem Nachher zerstreuen lassen, sondern möglichst ganz im Augenblick leben.

Auch im Buddhismus ist das ein zentraler Punkt. Im Mittelpunkt der buddhistischen Lehre steht die Gelassenheit, das Nicht-Anhaften und das Nicht-Unterscheiden.

«Diese Art von Gelassenheit soll die 'Weisheit der Gleichheit' zum Ausdruck bringen; also die Fähigkeit, alle Menschen als gleich zu betrachten und keine Unterschiede zwischen sich selbst und anderen zu machen sowie Situationen nicht dauernd zu bewerten.»
Albin Rohrer

Das klingt ganz sicher viel einfacher, als es dann in Wirklichkeit ist.

Vielleicht hatte die Pandemie mit ihrem Lockdown letztlich auch etwas Gutes. Wir hatten nämlich dabei die Gelegenheit, uns einige Zeit in Gelassenheit zu üben. Den einen ist das etwas besser gelungen, den anderen vielleicht etwas weniger. Diejenigen, die sich dauernd nur ärgerten, litten am stärksten. Und diejenigen, die versuchten, jeder Situation etwas Positives abzugewinnen, sind vielleicht dem Thema «Gelassenheit» etwas nähergekommen.