17. August 2020

Explosive Emotion

Explosive Emotion
Lesezeit ca. 9 min

Wut und Zorn: eine starke Kraft. Sie auszudrücken, tut gut – kann andere jedoch verletzen. Wie findet man einen
stimmigen Umgang mit dieser wichtigen Emotion, die oft verdrängt wird? Wie aus Wut Mut werden kann.

Es musste raus

Unerwartet steht Martin neben mir. Ich erschrecke, weil ich ihn nicht habe kommen hören. Der Kursteilnehmer ist wütend, er ist zornig. Schimpfend verschafft er seinem Ärger gehörig Luft. Er ist angerannt, die Türe beim Eingang unten blieb verschlossen – und so war aus dem Yoga, auf das er sich gefreut hat, dies geworden: nichts. Bereits zum zweiten Mal. Wahrscheinlich ein technisches Problem, keine böse Absicht. Ich kann die Wut von Martin nachvollziehen, bin jedoch etwas irritiert, den sonst ruhig wirkenden Mann so ausser sich zu erleben; und habe selber wenig Freude, als Adressat seines Frusts zu fungieren. Ihm selber ist dies im Nachhinein auch nicht recht. «Aber es musste raus!»

Ungefilterte Wut

So argumentiert auch die dünnhäutige cholerische Mutter, deren Zorn sich aus dem Nichts zu entfachen scheint und den sie mit langen, lautstarken Monologen ausdrückt. Dabei redet sie sich in Rage und degradiert ihre Tochter zur Zuhörerin für Dinge, die nicht für ihre Ohren bestimmt sind. Auf ihre Wut angesprochen, die sie derart ungefiltert und lautstark verbalisiert, sagt sie: «Darf ich mich denn nicht ausdrücken? Wollt ihr mir das etwa verbieten? Man darf doch sagen, was man fühlt, was man denkt! Tue ich das nicht, kriege ich einen Kloss im Hals, ersticke ich. Solange ich all das sage, was mich aufregt, bin ich noch lebendig!» Die Mutter bereut ihre Ausbrüche höchstens ab und zu, meist im Stillen.

Manchmal haben Zornige jedoch so viel Rückgrat und entschuldigen sich für ihren Ausbruch. Viele sind jedoch so erleichtert, das feurige Gefühlskonglomerat ausgespuckt zu haben, dass sie sich nicht bewusst sind, dass dies auf Kosten anderer geschehen ist, die behelligt, beleidigt, verletzt worden sind.

Wut: Explosive Emotion

Ungern gesehene Emotion

Wut ist eine Grundemotion im vielfältigen Gefühlsspektrum der Menschen. Das können wir bei Kleinkindern feststellen, je nach Charakter intensiver und öfter. Ein Bub aus meinem Bekanntenkreis verbiss sich regelrecht in seine Wut, wenn etwas nicht nach seinem Kopf ging. Er tobte, stampfte mit den Füssen, sein Kopf hochrot, er schrie und zeterte, nahe der Erschöpfung. Das zog sich jeweils lange hin und war für die Eltern eine Herausforderung: diese heftigen Gefühle und die starke Spannung auszuhalten, aufzufangen; dazu die Frage, ob man dem Frieden zuliebe vielleicht doch nachgeben soll. Am Nervenkostüm aller zerrte dies. Die Zweifel, ob man angemessen gehandelt hat und die gewählte oder erfolgte Reaktion letztlich stimmig war.

Wut kommt bei anderen Menschen nicht gut an, wird nicht gerne gesehen. Das bekommen wir von Klein auf mit. Nach negativen Erfahrungen schieben Kinder ihren Zorn zur Seite, verdrängen ihn; sie merken, dass die Eltern Wutausbrüche missbilligen und diese allenfalls unangenehme Konsequenzen haben.

«Früh lernen Kinder, dieses starke Gefühl zu unterdrücken, weil sie damit in der Skala von Sympathie und Wertschätzung nicht punkten. Darum ist es für ein Kind ein grosses Geschenk zu spüren, dass es auch in und mit seiner Wut geliebt wird.»
Marcel Friedli

Halten Eltern das Toben und Schreien aus im Wissen, dass Wut eine natürliche Reaktion ist, die sich ihr Ventil suchen muss, ist das ein Verhalten, dem grosser Respekt gebührt.

Wut: Explosive Emotion

Eine Frage des Geschlechts?

Meist sind Erwachsene selber konditioniert worden, die wütenden Anteile wegzudrücken. Wie die Berner Rapperin Steff la Cheffe: Auf ihrer CD «Härz Schritt Macherin» habe sie der Wut bewusst keinen Raum gegeben, räumt sie in einem Interview ein. «Ich wollte ihr keinen Raum geben und diese Phase überspringen. Ich fand, dass Wut unsouverän wirkt.» Vor allem als Frau. «Vielleicht ist das ein Genderding», mutmasst sie.

«Einen wütenden Mann versteht jeder. Wenn eine Frau wütend ist, gilt sie als Furie oder als hysterisch. Ihr spricht man jede Kompetenz ab.»
Steff la Cheffe
Berner Rapperin und Beatboxerin

Tief durchatmen

Auch einen unkontrollierten Mann empfindet man nicht als souverän. Ob Mann, ob Frau, ob Transgender: Negiert man die Wut in sich und sperrt sie weg – sie bleibt doch hängen: zum Beispiel in Form von Ärger. Oder sie sammelt sich zu innerem Groll.

«Gefühle, die nach innen gehen und sich meist im Körper und in der Seele ablagern – und sich in Form von Krankheit ausdrücken: Wut zu schlucken, ist tendenziell ungesund.»
Marcel Friedli

Grundsätzlich ist Wut eine gesunde Emotion, die in gewissen Situationen helfen kann, sich den Raum zu verschaffen, der einem zusteht und die Stimme zu erheben. Es gibt Menschen, die Botschaften nur dann verstehen, wenn man sie mit Impulsivität und Nachdrücklichkeit aussendet, in der Wut mitschwingt.

«Sie kann also eine Kraft sein, die einem hilft, sich Respekt zu verschaffen und für sich, für andere oder für eine Sache einzustehen. Vollkommen ungefiltert jedoch kann Wut, Zorn oder Jähzorn grosses Leid verursachen: Sie kann andere Menschen in Herz und Seele tief verletzen oder in körperliche Gewalt ausarten.»
Marcel Friedli

Tipps, die Wut zu kontrollieren

1. Wut erkennen und annehmen

Damit es nicht zu solchen Exzessen kommt, gibt es einen Weg: Wut zu erkennen und im Körper wahrzunehmen. Das Zaubermittel ist jene kurze Pause, in der man die Wut erkennt: wenn Hitze im Körper aufsteigt, als Brennen oder Enge im Herzen, als heftiges, schnelles Atmen. Dieser Blick nach innen schenkt eine kurze Pause: die Freiheit, frühestens aus dem zweiten Impuls zu handeln, besser aus dem dritten oder vierten – wenn die Vernunft wieder eingeschaltet ist, welche die Wut erkennt und annimmt. So wird bewusstes Handeln möglich.

2. Wut kanalisieren

Tut man dies, kann man in einem weiteren Schritt tief durchatmen und sich allenfalls aus der Situation hinausbewegen. Einen Berg hinaufrennen, einen Teig kneten, Holz hacken: Dies sind Möglichkeiten, den Zorn auszudrücken und damit zu kanalisieren.

3. Wut benennen und Lösungen suchen

Danach kann man dieser explosiven Emotion auf den Grund gehen: Warum bin ich so wütend – welche Erfahrung, welche Verletzung liegt dahinter? Mit den gewonnenen Erkenntnissen ist es leichter, das Gespräch zu suchen und seine Bedürfnisse auszudrücken. Vielleicht verbirgt sich hinter der Wut Überforderung, vielleicht ein Mangel an Anerkennung, allenfalls Angst, Unsicherheit. Mit diesem neutralen Hinterfragen und Verstehen kann man bewusster und besonnener sagen, was Sache ist – die Chancen, gehört und ernst genommen zu werden, steigen markant.

Wut: Explosive Emotion

Von Wut- zu Mutanfällen

Wut im Sololauf ist destruktiv. Kanalisiert und analysiert man sie jedoch, kann sie zu Grossem beflügeln. Das beweist die Coaching-Unternehmerin Sigrun Gudjonsdottir, die Millionenumsätze macht, obwohl sie vom Arbeitsamt für nicht vermittelbar gehalten wurde. Bereits im zweiten Jahr nach der Lancierung ihrer eigenen Firma hat sie eine Million Dollar angepeilt. «Es ging mir nicht ums Geld», versichert sie, «sondern ich wollte mit der Million zeigen, was Frauen erreichen können, wenn sie gross denken. Als Teenager in Island war ich unglaublich wütend, so viele Frauen zu sehen, die sich von ihren Träumen verabschiedeten und dafür alle möglichen Gründe fanden: keine Zeit wegen der Kinder, kein Flair für Technologie und Finanzen. Übersetzt heisst das alles:
Ich traue mich nicht. Oder: Es ist mir nicht wichtig genug.»

Statt Wutanfälle Mutanfälle: Wut kann zur Antriebskraft werden, kann einen zum Einsatz antreiben: als Unternehmerin, Klimaschützer, Friedensaktivistin, für Kinderrechte, für Menschen am Rande der Gesellschaft. Dabei ist ein Hauch Gelassenheit nötig, der einem einen klaren Kopf zum Handeln schenkt und hilft, Widerstände anzunehmen und konstruktiv damit umzugehen.

Zudem ist es nötig zu erkennen, wo und wie man etwas bewirken kann — und wo man nichts anderes tun kann, als die Situation anzunehmen, auch wenn sie einem nicht passt. Besinnung und Einkehr können helfen. Buddha wurde einst gefragt, was er durch Meditation gewonnen habe. «Nichts», antwortete er. «Aber ich kann sagen, was ich durch sie verloren habe: Sorgen, Depression, Unsicherheit, die Angst vor Alter und Tod – und Wut.»