(K)eine Ahnung von den Ahnen
Lesezeit ca. 7 min

Familiengeheimnissen auf der Spur: Gewinnen wir Erkenntnisse über die eigenen Ahnen und unsere Familie, kann sich Belastendes in unserem Leben auflösen – und sich befreiend auswirken.

Generationenübergreifende Übertragung

Beschwingend und herzöffnend war sie, diese Erkenntnis am Sonntagabend, direkt vor meinem Geburtstag – ein Geschenk zu meinem Geburtstag. Auslöser war ein Film, in dem sich eine alleinerziehende Mutter übermässig um ihren erwachsenen Sohn kümmerte. Dieser gab ihr Anlass zu vielen Sorgen: Ohne Ausbildung hangelte er sich von Job zu Job und von Wohnung zu Wohnung. Sie borgte ihm Geld, sie besorgte ihm Arbeit, sie gewährte ihm Unterschlupf. Bis der Sohn in einem Streit sagte: «Du liebst mich nicht!» Die Mutter erkannte, dass das im Grunde tatsächlich stimmte: Dass sie in ihrem Sohn immer auch ihren Ex-Mann sah, der es nicht auf die Reihe kriegte, der ihren Ansprüchen nicht genügte. Diese misstrauende Haltung gegenüber ihrem Sohn, für die sie sich im Innersten schämte, kompensierte sie, indem sie ihn mit Überfürsorge und Kontrolle überhäufte.

Als ich mir diese Szenen durch den Kopf gehen liess, fand ich Parallelen in meiner eigenen Familie: Meine Mutter hatte sich gegenüber meinem Bruder wie die Mutter im Film verhalten und ihr schlechtes Gewissen unbewusst mit Sorgen kaschiert. Gedanklich ging ich einen Schritt weiter, in mein Leben. Nachdem meine Mutter gestorben war, hatte ich es von ihr übernommen, mir um meinen Bruder Sorgen zu machen. Ich sah unbewusst – ebenso wie sie – in meinem Bruder meinen Vater.

«Eine generationenübergreifende Übertragung hatte also stattgefunden: von der Beziehung unserer Eltern auf jene zwischen uns als Brüder.»
Marcel Friedli

Diese Erkenntnis befreit. Seither habe ich die übergriffige Verantwortung für meinen Bruder abgegeben. Und unsere Beziehung hat sich entspannt.

Familienstellen bringt Erkenntnisse

Solche Erkenntnisse kann man noch unmittelbarer beim «Familienstellen» gewinnen. Dabei repräsentieren Statisten Ahnen und Mitglieder der Familie. Es gibt unterschiedliche Prinzipien, Philosophien und Herangehensweisen. Im Endeffekt geht es darum: Die Darsteller drücken sich als die Menschen der Familie aus, deren Energiefeld sie repräsentieren. Sie werden müde, legen sich auf den Boden, machen Bewegungen, sagen etwas – alles Gelegenheiten für Erkenntnisse zu Ungelöstem, nicht Erlöstem. Als Leiterin eines Familienstellens sei es wichtig, dass man alles geschehen lasse und genau beobachte und wahrnehme, sagt Heidi Volkart, ganzheitlicher Motivationscoach. Sie arbeitet oft mit Familienaufstellungen. «Die Statistinnen und Statisten sollen sich frei fühlen, das zu tun, wonach ihnen ist. Denn sie repräsentieren die Energie des jeweiligen Ahnen oder Familienmitglieds.»

Die Statistin, welche Mirela Simaga beim allerersten Stellen repräsentierte, hatte ein starkes Würgegefühl sowie Mühe zu atmen. «Dies führte mir meine damalige Lebenssituation vor Augen», erzählt sie. «Ich bekam in meinem Leben kaum Luft. Ich war dauernd damit beschäftigt, nach Luft zu schnappen: war stets am Reagieren, aber kaum am Agieren. Ich kam nicht dazu, mir meiner eigenen Bedürfnisse und Wünsche gewahr zu werden und sie zu äussern; geschweige denn, sie zu äussern und zu wissen, was mir guttun würde.» In der beschriebenen Stellsituation begann sich die Statistin, nachdem sie nach Luft geschnappt hatte, zu regen. Dies führte sinnbildlich zum nächsten Schritt, zur Frage: Was tue ich als Nächstes, um wieder mehr Luft zu haben? Wie komme ich aus meiner beengenden Lage heraus?

Diesen Impuls nahm Mirela Simaga in weitere Settings mit. «Es nahm mich wunder, wie es weitergeht. Denn dies war zwar ein wichtiger, aber erst der erste Schritt gewesen. Ich beschloss, mein Leben neu zu designen.» Für Heidi Volkart nichts Aussergewöhnliches: «Mit dem ersten Aufstellen kommen die ersten Ahnungen, wohin die Entwicklungsreise geht», weiss sie aus Erfahrung.

(K)eine Ahnung von den Ahnen

Im Leben gespiegelt

Dauernde Schwere, die sie ausbremste: Dies war für Mirela Simaga der Auslöser, sich auf den Weg zu machen. «Die Menschen, die ihre Fragen stellen lassen, spüren in sich, dass etwas nicht stimmt», sagt Heidi Volkart.

«Oft wollen sie Antworten auf etwas finden, das sie meist nicht genau in Worte fassen können. Oder sie merken, dass sich Erfahrungen auf seltsame Weise wiederholen. Hört man nicht auf diesen Impuls, meldet sich oft der Körper zu Wort: in Form von Schmerzen oder Krankheit.»
Heidi Volkart
Motivationscoach

Mache man nur aus Neugierde mit, flaue das Interesse bald ab. «Ein tieferer Antreiber muss es sein: ein innerer Schmerz, der einen veranlasst, in seinem Leben etwas verändern zu wollen. Sehr oft kommt es durch Familienaufstellungen zu Erfahrungen, dadurch zu Einsichten – und schliesslich zu Veränderungen, die sich direkt aufs Leben auswirken.»

Wie bei Mirela Simaga: «Die Erkenntnisse, die ich auf diese Weise gewann, hatten zum Beispiel direkte Auswirkungen auf den Kontakt zu meinen Eltern. Ohne dass ich ihnen davon erzählt hatte, entstand eine neue Offenheit: Wir begannen, einander zuzuhören, anstatt gleich zu streiten. Das ist ein Prozess, der sich immer noch entwickelt.» Über die Jahre drang sie immer tiefer in die Familiengeschichte ein, die auch eine Kriegsgeschichte ist: «Ich erkannte, dass meine Familie kaum Verschnaufpausen von den Traumata hatte, die durch Verlust, Folter und Tod ausgelöst worden waren.» All dies führte zu Lähmungen, die sich über Generationen übertrugen – bis zur aktuellen: «Auf der Flucht sein, das Gefühl, unterdrückt und ohnmächtig zu sein, mangelndes Vertrauen — all das spiegelte sich in meinem Leben: gesundheitlich, bei meiner Arbeit, in Konflikten, in Affären», sagt Mirela Simaga. «Diese über Generationen weitergegebenen Verletzungen als Muster und Strukturen in meinem Leben zu erkennen, hat mich enorm befreit.»

Die Fesseln sprengen

Nicht selten gehe man – aus einem unbewussten Muster heraus – in Widerstand: zu Autoritäten oder zu Gegebenheiten und Vorkommnissen im Leben, weiss Heidi Volkart. «Doch Widerstand ist nicht die erlöste Form. Mit Familienaufstellungen kann man Einsichten gewinnen, durch die man nicht mehr nach einem unbewussten Schema handelt – sondern bewusst.

Der lange Weg über zwölf Jahre hat sich für Mirela Simaga gelohnt. Sie hat ein Studium absolviert und ist drauf und dran, ihre berufliche Bestimmung zu finden. Erstmals in ihrem Leben ist sie in einer längeren, ausgeglichenen Liebesbeziehung. «Heute spüre ich grundsätzlich Frieden in mir. Ich habe zu vertrauen gelernt und erfahre, dass Geliebtwerden nicht ein unerschwinglicher Luxus ist. Dass es nicht darum geht, irgendwie zu überleben – sondern bewusst und erfüllt zu leben. Sich aus familiären Fesseln zu befreien, schenkt immense Kraft.»