03. März 2023

Ungeliebte Verpflichtungen in der Familie

Ungeliebte Verpflichtungen in der Familie
Lesezeit ca. 7 min

Familien bilden starke Solidargemeinschaften; gelegentlich bringen sie grosse Herausforderungen mit sich.

Der Familie verpflichtet?

Als die Verwaltungsangestellte Monika Gerber (Name geändert) pensioniert wurde, weihten ihr Sohn und ihre Schwiegertochter sie in ihren Plan ein: Da sie nun mehr Zeit habe, könnte sie öfters als Babysitterin einspringen, damit die Schwiegertochter vermehrt Einsätze als selbständige Eventmanagerin übernehmen könne. Dass ihr Sohn und ihre Schwiegertochter ungefragt über ihre Zeit verfügen wollten, ärgerte Monika Gerber sehr. Sie hatte andere Pläne. Die Witwe war froh, dass sie mit dem Ende des Berufslebens viele Pflichten abgeben konnte und nun Zeit für Reisen hatte; als Pensionierte wollte sie nicht vor allem als Babysitterin wirken.

«In Familien wird der gegenseitige Beistand immer wieder auf die Probe gestellt. Was die einen als familiäre Solidarität ansehen, empfinden andere als Ausnützung.»
Adrian Zeller

Während einer Krankheit oder auch in akuten finanziellen Notlagen darf man auf die Unterstützung von Angehörigen zählen. Doch sind sie auch verpflichtet, für die Schulden eines erwachsenen Bruders oder einer Schwester aufzukommen? Sollen sie eingreifen, wenn ein Familienmitglied immer wieder zu viel Alkohol trinkt? Der Grat zwischen wohlwollender Fürsorge und Bevormundung ist schmal.

Sture Familienrituale

Für das Ehepaar Gabathuler (Name geändert) ist klar: Wenn sie Weihnachten, Silvester oder Geburtstag feiern, erwarten sie, dass der Sohn und die Schwiegertochter daran teilnehmen. Das Ehepaar Gabathuler junior muss seine Agenda und seine Ferienplanung entsprechend ausrichten. Zwar würde Sandra Gabathuler gerne mal den Jahreswechsel in einem Wintersportort feiern, doch dieser Wunsch der Schwiegertochter wird kaum Wirklichkeit werden. «Das gäbe ein Riesentheater mit meinen Eltern, das würden sie uns nicht verzeihen, wenn wir an Silvester verreisen würden», sagt Marco Gabathuler.

Ungeliebte Verpflichtungen in der Familie

Seine Frau machte ihm mehrfach Vorwürfe, er müsse sich gegen seine Eltern endlich durchsetzen und sich von ihnen nichts vorschreiben lassen. Dieser Forderung kommt ihr Mann nicht nach, er will den Konflikt mit seinen Eltern nicht riskieren. Er fürchtet die Tränen seiner Mutter und das Donnerwetter seines Vaters. Marco Gabathuler steht im Spannungsfeld zwischen den Wünschen seiner Frau und den Ansprüchen seiner Eltern. Eine Situation, die in vielen Familien auftritt.

Manche Familien pflegen strikte Traditionen. Diese Rituale vermitteln eine gewisse Sicherheit im Jahreslauf, aber sie können für manche Teilnehmenden zur ungeliebten Pflichtübung werden; wo Freude herrschen sollte, macht sich Frustration breit. Sie seien undankbar, wird Söhnen und Töchtern vorgeworfen, wenn sie aus der Familientradition ausbrechen wollen und ihre Teilnahme an Familienanlässen absagen.

«Wenn Familientraditionen nicht flexibel gepflegt werden, werden sie zur lästigen Pflichtübung oder gar zur Qual.»
Adrian Zeller

Familienleben bedeutet oft eine Balance zwischen gegenseitiger Solidarität und der Erfüllung eigener Bedürfnisse. Wenn dies in ausgewogener Weise gelingt, herrscht Harmonie. Manche Familien können sich verhältnismässig leicht auf entsprechende Kompromisse einigen. Bei ihnen können alle Mitglieder ihre Wünsche beispielsweise bezüglich Gestaltung der Weihnachtsfeier oder der Geburtstage einbringen. In anderen Familien kommt es zur Machtfrage: Wer setzt sich mit seinen Ansprüchen durch? Aus familiärer Geborgenheit und Harmonie kann im ungünstigen Fall ein einengendes Korsett werden. Dies schadet dem Familienleben auf Dauer sehr.

Ungleichbehandlung von Geschwistern

Die 22-jährige Cornelia Tobler (Name geändert) ist in Ausbildung zur Dolmetscherin, ihre finanziellen Mittel sind sehr beschränkt. Deshalb nehmen ihre Eltern sie auf eine Kreuzfahrt mit und übernehmen sämtliche Kosten. Sie soll sich nach den Prüfungen vom Lernstress erholen können. Ganz wohl ist Cornelia Tobler dabei nicht, denn sie möchte sich von ihren Eltern nicht finanziell abhängig fühlen. Zudem hat sie Bedenken, ihr älterer Bruder könnte eifersüchtig auf die geschenkte Reise reagieren. Um ihr Dilemma zu lösen, spricht sie eine Einladung aus und bekocht ihre Familie.

Ein anderes Beispiel: Der Bruder von Chantal Bürge (Name geändert) gab sich in der Schule wenig Mühe, die Matura schien für ihn unerreichbar. Seine Eltern schickten ihn in eine Privatschule, wo er mit der entsprechenden Unterstützung den Schulabschluss schaffte. Dass die Eltern seine Bequemlichkeit tolerierten und ihn mit einigen Tausend Franken Schulgeld unterstützten, ärgert Chantal Bürge: «Von mir verlangten die Eltern stets gute Zeugnisnoten, zu mir waren sie viel strenger als zu meinem Bruder.»

Thema Geld sorgt für Zündstoff

Wie die Solidarität in der Familie definiert wird, wird auch von der jeweiligen Kultur mitbestimmt. Vor allem in Ländern des Südens wird die gegenseitige Verbundenheit in der Familie sehr gross geschrieben. Zum Teil werden die Saläre dem Familienoberhaupt zur Verwaltung abgeliefert, er teilt es unter den Familienmitgliedern auf.

«In der Schweiz und weiteren Ländern Mitteleuropas ist die gegenseitige Unterstützung sozusagen Verhandlungssache: Geben und Nehmen ist in allen Familien ein entscheidendes Thema, für das sie Regelungen finden müssen.»
Adrian Zeller

Sie sind wichtig für die Balance des psychologischen Klimas in der Familie. Oft werden Kinder schon früh angehalten, «Ämtli» zu übernehmen und so einen Beitrag ans Familienleben zu leisten. Die Kinder lernen dabei Verantwortung zu übernehmen, gleichzeitig verleiht ihnen die Erfüllung ihrer Aufgabe eine Portion Selbstwertgefühl. Sie machen zudem die Erfahrung, dass sie nicht nur Konsumierende sind, sondern einen eigenen Beitrag zum Familienleben beisteuern müssen.

Kinder erledigen ihr Ämtli

Ein Kernthema in den Familien ist Geld. Dürfen Kinder für die Erfüllung ihrer «Ämtli» einen kleinen Geldbetrag erwarten? Oder ist ihr Einsatz kostenlos, so wie die Eltern für Kochen, Putzen und Waschen auch keinen Lohn erhalten? Derartige Fragen müssen frühzeitig geklärt werden; sie bergen viel Zündstoff in sich, der etwa in Erbstreitigkeiten eskalieren kann.

Gesprächskultur pflegen

Im Familienleben ist das Feld zwischen Abhängigkeit und Selbstbestimmung ein zentrales Thema. Zu viel Anpassung kann die eigene Entfaltung verhindern und im Extremfall zu körperlichen und psychischen Beschwerden führen, weil eigene Bedürfnisse ständig unterdrückt oder verdrängt werden müssen. Eine zu ausgeprägte Individualität sabotiert dagegen die Beziehungen in der Familie, sie führt entweder zu ständigen Konflikten oder zur Isolation.

Dabei darf nicht übersehen werden, dass das Familienleben ein dynamisches Gefüge ist, Beziehungen und Verhaltensweisen können sich immer wieder verändern und eine positive oder eine eher ungünstige Entwicklung nehmen. Gespräche sind daher sehr wichtig, bevor es zu heftigen Konflikten und zu sehr verhärteten Fronten kommt.