Fatigue-Syndrom: unendlich müde und erschöpft
Lesezeit ca. 6 min

Rechnungen bezahlen, das Bad putzen, einkaufen und so vieles mehr: Der Alltag ist anspruchsvoll und benötigt viel Energie. Bewusst wird einem dies erst, wenn sie vollends fehlt – Menschen mit Fatigue-Syndrom müssen das bitter erfahren.

Wieder ins Arbeitsleben einsteigen: Das hat sich Claudia zum Ziel gesetzt. Was nicht spektakulär klingt, ist für die Frau um die dreissig ein visionäres Vorhaben. Ein Schlaganfall hat ihr Leben ruckartig auf den Kopf gestellt. Nach diesem Schnitt in ihrem Leben hat Claudia vieles neu zu lernen. Viel Geduld und Beharrlichkeit sind gefragt, bis sie wieder einigermassen auf den Beinen ist. Doch danach ist Claudia noch immer sehr erschöpft. Über Monate. Sie, die vorher einiges gemeistert und bewältigt hat: die Familie und Betreuung der Kinder, den Haushalt und die Arbeit ausser Haus.

«Ich strengte mich zusätzlich an», sagt Claudia. «Erfolglos. Ich zweifelte an mir und machte mir Vorwürfe, dass ich nicht alles schaffte, was ich mir vorgenommen hatte.» Die Folge: Claudias Selbstvertrauen bricht ein. Sie leidet darunter, den Anforderungen nicht mehr zu genügen. «Ich fühlte mich wertlos.»

Fatigue-Syndrom: mühselige Begleiterscheinung

Darum ist es die Erlösung, dass diese chronische Erschöpfung einen Namen hat: Fatigue-Syndrom.

Beim Fatigue-Syndrom handelt es sich um eine Begleiterscheinung bei chronischen Krankheiten oder nach Unfällen. Sie kann zum Beispiel auftreten bei Long Covid (vgl. Interview im Anschluss), bei Multipler Sklerose, bei Schädel-Hirn-Trauma, Schlaganfall, Krebs, bei rheumatologischen Erkrankungen und anderen mehr.

Das Fatigue-Syndrom äussert sich als tiefgreifende Kraft- und Energielosigkeit, die einen daran hindert, die Anforderungen des Alltags zu bewältigen.

Oft leidet dann in unserer leistungsorientierten Gesellschaft das Selbstvertrauen. Nicht selten wird das Fatigue-Syndrom spät oder gar nicht erkannt; Betroffene hadern jahrelang.

«Zu akzeptieren, dass man kaum etwas auf die Reihe kriegt, ist der erste – zentrale – Schritt.»
Marcel Friedli

Immerhin gibt es meist einen Hoffnungsschimmer: Man kann etwas machen. Etwas machen, das bedeutet: sich zum Beispiel therapeutisch begleiten zu lassen. Es gibt diverse Ansätze.

Therapeutische Begleitung bei Fatigue-Syndrom

Claudia entscheidet sich für Ergotherapie: Sie hat das Ziel, Betroffene dabei zu unterstützen, ihren Alltag nach Krankheit, Unfall oder trotz einer Behinderung möglichst selbständig zu bewältigen. Die Therapien finden in Institutionen, in einer Praxis oder im Daheim der Betroffenen statt.

Im Rahmen der Therapie erstellt Claudia ein Energieprofil: Minutiös beobachtet sie ihre Tätigkeiten und notiert dies. So hat sie die Basis, um mit ihrer Therapeutin zu reflektieren, wie sich welche Tätigkeit auf ihren Energiepegel auswirkt. So gelangt sie zu Erkenntnissen, die sie nach und nach umsetzen kann.

Zum Beispiel: deutlich früher mit Kochen beginnen, vorkochen, kurz vor dem Essen aufwärmen. Die Putzarbeiten, die vorher in einem Tag erledigt sind, auf mehrere Tage und kürzere Einheiten verteilen. Und sich so ein Wochenprogramm zusammenzustellen, das realistisch und auf ihre Kräfte zugeschnitten ist. Dabei soll auch zum Zug kommen, woran man Freude hat: nähen, zeichnen, schreiben, lesen und Ähnliches. Mit der Energie, die einem zur Verfügung steht, nicht lediglich Pflichten abarbeiten – sondern auch Dinge tun, die einen freuen.

«Durch die gezielte Arbeit mit einer Therapeutin oder einem Therapeuten finden Betroffene heraus, wie viel sie zu bewältigen imstande sind. Für das Übrige können sie sich Entlastung suchen. Oder Dinge vereinfachen, weglassen.»
Marcel Friedli

Claudia wird von ihrem Mann tatkräftig unterstützt. Hie und da greifen ihr auch Angehörige oder Freunde unter die Arme.

Übrigens: Claudia hat es geschafft: Sie arbeitet wieder Teilzeit und kann ihren Alltag bewältigen, ohne sich zu erschöpfen. Geduld, Beharrlichkeit und Optimismus haben sich gelohnt.

Interview
Long Covid: «Zuweisungen seit Monaten auf hohem Niveau»

Long Covid ist eine Form des Fatigue-Syndroms. Mit Corona sind etliche spezifische Sprechstunden entstanden. Dort landet man jedoch erst nach genauen Abklärungen durch die Hausärztin oder den Hausarzt, wie Dominique Braun vom UniversitätsSpital Zürich erläutert.

Dominique Braun, wie gefragt ist die Sprechstunde zu Long Covid am UniversitätsSpital Zürich?

Die Zuweisungen sind auf relativ hohem Niveau stabil – und das seit Monaten.

Dann kann man also nicht zu Ihnen kommen, um sofort zu erfahren, ob man sich Long Covid eingefangen hat?

Nein. Die Zuweisungen laufen über die Hausärztin oder den Hausarzt.

Und wenn mich meine Hausärztin speditiv anmeldet?

Auch dann benötigen wir detaillierte Angaben über Vorerkrankungen, anderweitige Diagnosen, Abklärungen im Labor, Testergebnisse zu Corona. Und zu den Hauptbeschwerden.

Warum benötigen Sie so viele Vorinformationen?

Damit wir uns seriös auf die Patientinnen und Patienten vorbereiten können. So verläuft das Gespräch sehr zielorientiert. Long Covid ist sehr komplex – interdisziplinär: Wir arbeiten mit etlichen medizinischen und therapeutischen Spezialistinnen und Spezialisten zusammen.

Haben Sie deshalb Wartefristen von mehreren Wochen?

Ja. Neben dem Tagesgeschäft auf der Infek- tiologie können wir pro Woche zehn Personen mit allfälligem Long Covid bei uns empfangen.

Das ist wenig. Wie frustrierend ist das für Sie als Arzt?

Es sind herausfordernde Gespräche. Nicht immer kann man gleich etwas Konkretes anbieten, weil Long Covid ein Syndrom ist, bei dem viele Faktoren hineinspielen. Es braucht Geduld. Das enttäuscht viele Patientinnen und Patienten, die einen hohen Leidensdruck und hohe Erwartungen haben. Es ist jedoch wichtig, bezüglich somatischer Erkrankungen abzuklären.

Warum?

Manchmal ist die Erklärung für Energielosigkeit nicht Long Covid. Sondern zum Beispiel eine depressive Erkrankung. Oder sie betrifft das Hormonsystem. In vielen Fällen kommt es zur Überweisung in die Neuroimmunologie. Oder es ist angezeigt, therapeutisch mit Energiemanagement (vgl. Haupttext) zu arbeiten.

Wann soll man sich auf Long Covid abklären lassen?

Wenn der Leidensdruck sehr hoch und die Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sind. Oft bessern sich die Beschwerden mit der Zeit. Neben dem Zeitfaktor spielen auch die Selbstheilungskräfte eine zentrale Rolle.

Wann spricht man von Long Covid?

Wenn man über drei Monate spezifische Beschwerden hat, davon zwei Monate lückenlos anhaltend – und wenn diese Beschwerden zu einer Einschränkung im Alltag führen.