Gefängnis im Kopf
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Zwangsstörungen haben viele Gesichter und unterschiedliche Ausprägungen: Reinigungs-, Wasch- und Kontrollzwänge treten in unseren Breitengraden am häufigsten auf. Dass sie zum Alltag vieler Menschen gehören, ist wenig bekannt. Damit das Leben nicht komplett aus den Fugen gerät, sind Betroffene auf Hilfe angewiesen.

Um mehr über diese Störungen, die meist im Stillen stattfinden, zu erfahren, habe ich mich mit einem Profi unterhalten. Wichtig ist uns, dass wir mit diesem Interview niemandem Angst machen, sondern Aufklärungsarbeit leisten möchten. Was ist eine Marotte und wo beginnt eine Zwangsstörung, die den Alltag in einen Albtraum verwandeln kann?

Herr Benoy, es gibt Marotten und Zwänge. Wie unterscheiden sie sich?

Eine Marotte hat in der Regel eine funktionale und auch positive Seite. Sie kann Halt geben; und solange sich jemand dadurch nicht eingeschränkt fühlt, entsteht auch kein Problem. Solche Angewohnheiten haben bereits kleine Kinder und sind an sich nichts Schlimmes. Wir alle haben unsere Marotten. Damit sich aus einer Angewohnheit eine Zwangsstörung entwickeln kann, braucht es viele unterschiedliche Einflussfaktoren. Wenn Marotten stärker werden und sich häufen, sollte man einen Schritt zurücktreten und die Handlungen beobachten.

Raphael Nadal und viele andere Sportler haben Marotten und Rituale. Warum?

Sportler haben oft Rituale: Sie ziehen immer den linken Fussballschuh zuerst an, betreten den Rasen mit dem rechten Fuss oder montieren vor einem Hockeyspiel zuerst den linken Handschuh. Das gibt ihnen scheinbar Halt und ist mit dem Gewinn der Partie oder dem persönlichen Erfolg verbunden. Raphael Nadal hat vor seinen Aufschlägen eine ausgeprägte Marotte, die ihn in seiner erfolgreichen Karriere aber offensichtlich nicht behindert. Alle, die mit solchen Ritualen leben, wissen, dass sie eigentlich unnötig wären. Diese Handlungen wirken aber beruhigend und geben Sicherheit. Ich würde es bei Raphael Nadal aber keinesfalls als Zwangsstörung bezeichnen, obwohl ich zugeben muss, dass sein Verhalten vor dem Aufschlag abstrus wirken kann …

Es gibt auch Zwangsgedanken. Wie äussern sich diese?

Zwangsgedanken, zum Beispiel mit aggressiven Inhalten, begegnen wir sehr oft. Die Angst, zum Beispiel jemandem unkontrolliert etwas anzutun, sich selber Schaden zuzufügen oder das eigene Kind ungewollt fallen zu lassen oder zu verletzen, sind weit verbreitet.

Geht der Zwangshandlung immer ein Zwangsgedanke voraus?

In den allermeisten Fällen ist es so. Der Zwangsgedanke geht voraus, und mit der Zwangshandlung versuchen Betroffene, den Gedanken zu neutralisieren. Um ein Beispiel einer Mutter zu nennen: Wenn eine Mutter den Zwangsgedanken hat, dass sie ihr Kind fallenlassen könnte, löst sie das Problem, indem sie ihr Kind nicht mehr auf den Arm nimmt. So wird künftig nur noch der Vater das Kind tragen.

Es gibt auch Fälle, wo der ursprüngliche Zwangsgedanke nicht mehr klar ist. Ein Patient lebt seit vielen Jahren mit einem Putzzwang: Seine Wohnung ist mittlerweile mit dem Mindesten ausgestattet, damit ihm das Putzen leichter fällt. Wie und warum dieser Zwang vor Jahrzehnten begonnen hat, weiss er nicht mehr. Der Gedanke ist nicht mehr fassbar, beziehungsweise die Angst hinter dem Ritual, aber die Zwangshandlungen sind trotzdem extrem ausgeprägt. Er findet keine Ruhe, wenn er nicht täglich die ganze Wohnung putzt.

Bild einer Person, die den Boden fegt

In der Regel ist es aber schon so, dass eine Zwangsstörung mit fassbaren Zwangsgedanken einhergeht. Er wird durch eine Situation oder einen inneren Gedanken ausgelöst und führt dazu, diese Gedanken auf der Handlungsebene zu neutralisieren. Zwangshandlungen äussern sich meist im Wunsch, sich sicher zu fühlen und eine bestehende Angst zu verdrängen.

Wie entsteht eine Zwangsstörung?

Wir alle kennen Rituale, vor allem aus der Kindheit. Sie sind eine wertvolle Form von Stabilität und Sicherheit, die zum Leben gehören.

«Der Übergang von einem Ritual oder einer Marotte zu einer Zwangsstörung ist schleichend. Wenn sich Betroffene in ihrem Alltag beeinträchtigt fühlen, dann ist die Grenze überschritten.»
Dr. Charles Benoy

Wer sich beim Verlassen der Wohnung überlegt, ob die Kaffeemaschine ausgeschaltet ist und nachkontrollieren muss, hat noch keine ausgebildete Zwangsstörung. Wir haben aber bei uns Patienten, die für das Verlassen der Wohnung mehr als zwei Stunden benötigen, weil sie beispielsweise alle Fenster, Türen und sämtliche Steckdosen kontrollieren (müssen). Solche Handlungen schränken die Lebensqualität enorm ein. Vielfach gehen Betroffene mit der Zeit aus Scham, dass sie beim Kontrollieren beobachtet werden, nicht mehr aus dem Haus.

In den letzten Jahren erleben wir diesbezüglich eine deutliche Zunahme. Menschen mit einer Zwangsstörung leben komplett zurückgezogen. Mit der Möglichkeit, alles Lebensnotwendige online bestellen zu können, kann das Leben isoliert stattfinden und die Zwangsstörung somit auch kaschiert werden. So fehlen auch wichtige soziale Kontakte.

Was sind Auslöser?

Die Auslöser sind multifaktoriell – das ist bekannt.

«Nicht selten ist das Problem mit einer prägenden Erfahrung verbunden, aber es gibt auch genetische Einflussfaktoren. Menschen mit diesen Anlagen spüren mehr Angst und sind deshalb auch anfälliger für Zwänge. Auch die Erziehung kann eine Rolle spielen.»
Dr. Charles Benoy

Wer in einem Umfeld aufwächst, in dem zum Beispiel sehr viel Wert auf Leistung gelegt wird, es nur richtig oder falsch gibt und Strafen bei einem allfälligen Versagen ein Thema sind, wird dadurch stark geprägt. Es bilden sich Ängste vor einem Misserfolg und den möglichen Konsequenzen. Das Gefühl, sich keinen Patzer leisten zu können oder sich nichts zu Schulden kommen lassen zu dürfen, wirkt sich extrem aus. Zwänge können in solchen Fällen eine kurzfristige, beruhigende Wirkung auslösen. In 95 Prozent der Fälle steckt hinter einem Zwang immer Angst. Manchmal lösen auch angelernte Ekelgefühle Zwänge aus, die für Betroffene ebenfalls eine regulierende Funktion haben.

Gibt es eine Prophylaxe?

Es ist sicher wichtig, einem Kind Flexibilität im Umgang mit Regeln vorzuleben.

«Wir merken bei unseren Patienten, dass sie ein sehr starres Weltbild haben und hohe Leistungsansprüche an sich stellen. Das wird in der Regel von den Eltern vorgelebt.»
Dr. Charles Benoy

Was passiert, wenn ein Fehler gemacht wird? Lernt ein Kind, dass ein Fehler zu machen oder schuldig zu sein, etwas ganz Schlimmes ist – oder wird ihm vorgelebt, dass alles verzeihbar ist und die Welt nicht gleich untergeht?

Können bei einem Kind Zwänge auch durch Rituale ausgelöst werden?

Rituale sind per se etwas sehr Gutes. Es sind Situationen, die voraussehbar sind und deshalb Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Negativ wird es, wenn ein Ritual in einer allzu starren Form stattfindet. Es wird gefährlich, wenn das Ritual so stark ist, dass es unbedingt immer und immer wieder genau gleich gelebt werden muss; oder das Ritual so rigide ist, dass überhaupt keine Flexibilität mehr möglich ist. Wenn ein Kind keine kleine Änderung des Rituals akzeptiert und stur bleibt, kann sich ein Zwang so entwickeln. Wichtig ist, innerhalb der Rituale eine gewisse Flexibilität zu bewahren – sowohl aus der Sicht der Eltern wie auch aus der des Kindes.

Zwänge treten häufig im jungen Erwachsenenalter auf. Oft werden kindliche Rituale nicht abgelegt und dadurch sogar verstärkt.

Sind mehr Frauen oder Männer betroffen?

Zwangsstörungen treten bei beiden Geschlechtern etwa gleich häufig auf. Allerdings sehen wir in der Therapie mehr Frauen, diese trauen sich oftmals früher in eine Behandlung zu kommen.

Wann kommen Betroffene zu Ihnen?

Statistisch gesehen etwa nach sieben bis zehn Jahren. Das dauert so lange, weil die Scham gross ist und Fachleute die Störung nicht immer als solche erkennen. Ein Hausarzt zum Beispiel wird selten mit diesem Krankheitsbild konfrontiert. Deshalb ist Aufklärungsarbeit so wichtig. Je früher eine Zwangsstörung erkannt und therapiert wird, desto grösser ist die Heilungschance.

Ist Ihren Patienten bewusst, was sie tun?

In den allermeisten Fällen sind sie sich bewusst, was sie tun. Sie wissen auch, dass ihre Handlungen sinnlos sind. Deshalb ist die Scham auch so gross und der Weg lang, bis sie sich endlich Hilfe holen. Manche Patientinnen und Patienten duschen oder waschen sich die Hände auch bei Therapiebeginn stundenlang. Das nimmt viel Zeit in Anspruch und schädigt natürlich auch die Haut. Viele Hände bluten mit der Zeit und verursachen grosse Schmerzen, wenn sie sich zwanghaft die Hände desinfizieren. Das sind Folgeerscheinungen, die zusätzlich belasten.

Bild einer händewäschenden Person

Wie sieht eine Therapie aus?

Zuerst führen wir ein Gespräch und diagnostizieren die Krankheit. Wir erklären betroffenen Menschen, was in ihnen effektiv abläuft. So wird klar, wo der Zwang herkommt und mit welchen Lernprozessen er verbunden ist. Anschliessend erarbeiten wir den Zwangsgedanken und suchen nach Lösungen, wie wir mit diesen Gedanken anders umgehen könnten. Dann gehen wir in die Handlungen rein und machen sogenannte Expositionsübungen. Mit diesen Übungen wird versucht, die Zwangshandlung zu verhindern. Diese Übungen sind sehr wirkungsvoll und erfolgreich.

Wir haben in unserer Klinik 16 Therapieplätze, wo stark Betroffene stationär behandelt werden. Nach zwölf Wochen wird die Therapie ambulant weitergeführt. Bei den meisten Menschen wird allerdings ambulant behandelt, da es gar nicht so viele stationäre Therapieplätze gibt und dies in vielen Fällen nicht nötig ist. Bei etwa der Hälfte der Patientinnen und Patienten entwickelt sich zusätzlich im Laufe einer nicht adäquat behandelten Zwangsstörung eine Depression, weil sie keine Hoffnung, keinen Lebensmut und keinen Antrieb mehr haben. Manchmal ist diese Depression so schwer, dass zuerst diese Begleiterscheinungen behandelt und die betroffenen Menschen stabilisiert werden müssen, bevor die eigentliche Therapie beginnen kann.

Werden Zwänge immer stärker und ausgeprägter?

In den allermeisten Fällen ist das so. Betroffene werden sozusagen Sklaven der eigenen Angst. Man möchte unbedingt vermeiden, dass etwas Schlimmes passiert – und dadurch wird die Angst immer grösser, die durch Zwänge wieder neutralisiert wird. Eine Therapie ist angesagt, wenn das eigene Leben oder das der Mitmenschen beeinträchtigt ist.

Ist die Anzahl Betroffener gestiegen?

Es ist schwierig, eine genaue Zahl zu nennen, da wir die Dunkelziffer nicht kennen. Vor zehn Jahren hat man noch gesagt, dass es ein bis zwei Prozent der Bevölkerung betrifft. Heute gehen wir davon aus, dass es drei Prozent sind. Aber ritualisiertes Verhalten gab es schon immer.

Kann eine Zwangsstörung geheilt werden?

Wenn sie rein pharmakologisch behandelt wird, ist die Rückfallgefahr gross. Deswegen ist es wichtig, zusätzlich eine spezifische Psychotherapie, die sogenannte kognitive Verhaltenstherapie, zu machen. Die beängstigenden Gedanken, welche die eigentlichen Auslöser für Zwangshandlungen sind,  verschwinden zwar nicht immer, aber der Umgang damit ist veränderbar und die Zwangsstörung somit heilbar.

Etwa bei siebzig Prozent haben wir Erfolg. Das sind gute Aussichten, die allen Betroffenen Mut machen sollten.

 

Wieder draussen im schönen Garten spüre ich die Komplexität dieses Themas. Ich hoffe, dass Betroffene und Angehörige dieses Interview lesen werden; und viele die Scham überwinden und offen werden für eine erlösende Therapie.

Eine Krankheit,

  • die von den Betroffenen oft aus Scham verheimlicht wird
  • die viel Leid und Einschränkungen mit sich bringen kann
  • welche sich meist auch auf die Angehörigen auswirkt
  • deren Symptome den Betroffenen und Angehörigen oft unheimlich sind
  • deren Ursachen individuell unterschiedlich sind
  • über die immer noch viel zu wenig Menschen informiert sind
  • für die es wirksame Behandlungsmethoden gibt

Aus der Informationsbroschüre «Die heimliche Krankheit – Zwangserkrankung» (SGZ).

Weitere Informationen: Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel und Schweizerische Gesellschaft für Zwangsstörungen