14. Mai 2018

Geistige Nahrung

Geistige Nahrung
Lesezeit ca. 8 min

Es wird viel über gesunde Nahrung geschrieben und gesendet. Meist geht es darin um Essen und Trinken. Aber mindestens so wichtig ist die geistige Nahrung – namentlich auch für Kinder während der Teddyzeit.

Geistige Nahrung umfasst zunächst Erzählungen, Geschichten, Reime und Gesänge. Was uns in früher Kindheit erzählt wird, prägt die Wurzeln unseres Weltbildes. Das wussten die Völker vor unserer medialen und digitalen Welt intuitiv.

Mythen und Märchen

Die erzählten Mythen und Märchen, wozu ich auch die Geschichten der Bibel zähle, hielten das Stammesbewusstsein zusammen. Identität und Zugehörigkeit der einzelnen Menschen, ihre Pflichten und ihre Hoffnungen wurden so im Kindesalter gesät und im Erwachsenenalter immer aufs Neue bestärkt, wie es heute Berichte aus aller Welt tun. Und so gut sich die Mythen der Germanen von den römischen Feldherrengeschichten unterschieden haben, tun es heute die Sender der verschiedenen Weltregionen.

Jede Gewaltanwendung braucht ihre Rechtfertigungsgeschichte – sei es zwischen Geschwistern oder zwischen Weltmächten. Das bestätigen alle Historiker, die auch die Quellen und Dokumente der jeweils anderen Konfliktpartei einbeziehen. Wenn wir die aktuellen Nachrichten und Propagandaschlachten in allen Medien beobachten, stellen wir weltweit eine beschleunigte Professionalisierung von Mythenbildung fest. Zudem brachte unser medientechnischer Fortschritt eine bisher nie erreichte gleichzeitige Verfügbarkeit widersprüchlicher Berichterstattung mit sich. Nicht ganz so neu ist, dass wir nur mit erheblichem Zeitaufwand und wohl nur sehr begrenzt zwischen Berichterstattung und erfundenen oder doch gezielt gefärbten Geschichten unterschieden können, die unsere Weltvorstellung beeinflussen. Die Mythen – wie die griechischen Sagen oder die urgermanische Edda – waren die Nachrichten der vormedialen Zeit. Am Sinn und an der Wirkung hat sich so wenig geändert wie an der Mischung von Unterhaltung, Erbauung und gezielter Verbreitung von Vorstellungen über unsere Welt. Die Formen der Darbietungen haben sich aber drastisch vermehrt und verändert.

Aufnahme dank Form und Inhalt

Wie bringe ich meine Vorstellungen am erfolgreichsten «unters Volk»? Dies ist eine Frage der Form. Welche Inhalte und Werte zum Beispiel will ich dem Kind vermitteln und wie kann ich dies am nachhaltigsten tun? Moralpredigten – ob zuhause oder in der Kirche – verfehlen dieses Ziel wohl zu nahezu hundert Prozent. Der nackte Inhalt bedarf einer gewissen Verpackung, um bei Kindern und bei Erwachsenen zu «landen». Inhalt und Form sind aufeinander abzustimmen.

Grosse ErzählerInnen, Regisseure und bildende Künstlerinnen erreichen die besondere Aufmerksamkeit dadurch, dass ihnen diese Umsetzung besonders eindrücklich gelingt. Geistige Nahrung berührt immer auch die Gefühle und das Gemüt.

«Wir wissen, dass Kinder und Erwachsene Lernstoffe besser ins Gedächtnis aufnehmen, wenn sie einerseits ein ideales Mass an Gefühlsintensität auslösen und andererseits verschiedene Sinne gleichzeitig ansprechen.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Die berühmte Tränendrüse macht Menschen spendierfreudiger. Die Filmmusik färbt die gezeigte Handlung in Freude, Leid oder Panik. Manchmal lässt sich so der dargestellte Inhalt in eine gegenteilige Botschaft wandeln: Die heroischen Fanfaren lassen Kriegsgräuel als Triumph und ehrenwerte Taten erscheinen; der grummelnde Sound bewirkt, dass die romantische Begegnung in eine untergründige Bedrohung verwandelt wird, die unheimliche Erwartungen auslöst.

Aufnahme durch Beziehung

Geschichten und Nachrichten berühren uns mehr, wenn sie in unsere Lebenserfahrung eingebettet sind. Waren wir schon mal im Gebiet unterwegs, aus dem heute Berichte oder Geschichten zu uns dringen, springt unser Interesse unmittelbar an. Mitteilungen eines Bekannten – des berühmten Gewährsmannes – sind uns glaubwürdiger als die Nachrichten aus irgendeiner Agentur. Erzählungen der Grossmutter aus vergangenen Jahrzehnten bleiben Kindern unmittelbarer haften als der Geschichtsunterricht.

Natürlich spielt hier die Qualität der Beziehung eine grosse Rolle: Wie glaubwürdig erlebte ich die Person bisher? Im Kleinkindalter haben die Eltern einen grossen Vertrauensvorschuss. Sie sind meist das Mass aller Dinge, solange nicht Familienkonflikte, Vertrauensbrüche oder leicht durchschaubare Unwahrheiten den Glauben erschüttert haben.

«Dieser Glaube an die Wahrheit des Erzählten wird in der Pubertät und Adoleszenz erschüttert (werden müssen). Das Hinterfragen ist ein wichtiger Schritt in der Bildung einer eigenen geistigen Selbständigkeit.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Das Bewusstsein der Eltern, dass ihre Sicht der Dinge nicht die Wahrheit an sich sein kann, hilft Jugendlichen und ihren Eltern. Denn der Disput «Was ist Wahrheit?» resp. «Welche Wahrheit stimmt?» ist notwendig für die geistige Weiterentwicklung beider.

Geistige Nahrung

Aufnahme dank entspannter Atmosphäre

Geistige Nahrungsaufnahme gelingt in einer wohligen und entspannten Atmosphäre am besten. Denken Sie an die Lektüre im Bett oder im Lehnstuhl, an eine mitreissende Aufführung im Schülertheater, aber auch eine kuschelige Familienrunde im Wohnzimmer. Gerade für kleine Kinder ist die körperliche Nähe ein tiefes Bedürfnis. Bringen sie die Märchen und Geschichten noch auswendig zusammen, ist es wohl das ideale Ambiente, mit kleinen Kindern kuschelnd die Geschichten von Abenteuern, bedrohlichen Hexen und hilfreichen Tieren vorzutragen. In Körperkontakt Geschichten vorlesen und Bilderbücher betrachten erfüllt aber auch den Zweck, Gemüt und Geist mit Vorstellungen, Hoffnungen und Lebensmut zu bereichern.

Besonders günstig ist es, solche Bildungsstunden mit einem Ritual vom Alltag abzuheben: Eine Kerze anzuzünden, eine bestimmte Lese- oder Kuschelecke aufzusuchen, eine bestimmte Tageszeit einzuhalten, erzeugen ihre Wirkung durch die Wiederholung und die Regelmässigkeit. Rituale dienen Kindern als Signal und Orientierungshilfe: Jetzt beginnts; hier ist Raum und Zeit für dieses Ereignis etc.

Inhalte dem Alter entsprechend

Wie für Form und Atmosphäre gilt es natürlich auch die Inhalte dem Alter angemessen auszuwählen. Wer sind Ihre Helden und Heldinnen für die Kleinen? Sind es die jungen Superhelden, die ohne Hilfe von Erwachsenen oder anderen Kräften die Bösen dieser Welt zur Strecke bringen? Sind es die Gewalttätigen à la Bond «Bond, James Bond» oder die Cleveren à la Harry Potter? Sind es die Schwachen und Ausgegrenzten, die dank weltlicher oder übersinnlicher Hilfe ihr Glück wider alle Wahrscheinlichkeit erreichen? Sind es die alltäglichen Mädchen und Buben, die durch gegenseitige Hilfe und Solidarität einander helfen und vielleicht sogar schwachen Erwachsenen beistehen? Muss es dramatisch, phantastisch oder gar grausam sein? Was empfinden Sie als lustig? Welchen Witz wollen Sie ihren Kindern nahebringen? Das Verhöhnen der Schwächeren oder des anderen Geschlechts?

Alles ist «auf dem Markt» zu finden. Oft subtil verpackt. Gerade in Klamauk-Sendungen ist davon viel zu sehen. Ich höre schon das Argument: Ist ja nur Unterhaltung! Aber das stimmt nicht. Achten Sie auch darauf, ob Sie selber die «lustigen» Schwächen, Versprecher oder Ungeschicklichkeiten Ihrer Kinder zum erheiternden Gesprächsstoff zwischen Erwachsenen machen: Auch dies sind Geschichten, die sich Ihrem Kind meist als seine eigene Blödheit einprägen.
Wenn das lustig sein soll …!

«Kinder ahmen bekanntlich nach: Wenn sie andere lächerlich machen, handeln sie nach Vorbildern.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Geschichten prägen

Kleine Kinder sind oft nicht so dramatisch veranlagt wie viele zu glauben scheinen. Auch Geschichten aus dem «banalen» Alltag können faszinieren, wenn sie gut erzählt werden. Eltern sollten sich nicht ängstigen, Kinder zu langweilen, wenn sie Bilderbücher oder Geschichten ohne viel Spektakel vorlegen; denn die wenigsten Kinder wünschen sich einen dramatischen Alltag. Ich glaube vielmehr, dass viel Nervosität dadurch in die Kindheit hineingetragen wird, dass immer alles witzig, extravagant oder neu und ungewöhnlich sein soll.

«Die Geschichten, die wir kleinen Kindern (und bis weit in die Schulzeit hinein) auftischen, prägen auch ein Wunschbild: Offenbar erwartet die Welt, dass ich so oder so sein soll.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Die Geschichten bevölkern die Zukunftsfantasien und die Selbstwahrnehmung: Wie grossartig müsste ich eigentlich sein? Wie doof ist es, dass ich nur ganz gewöhnlich bin? Was mache ich mit meinem Anlehnungsbedürfnis, wenn ich eine Powermaid sein sollte und eine Superfrau werden muss? Wie soll ich Ängste zeigen oder Schwäche, wenn alle bewunderten Knaben heldenhaft, vielleicht sogar gewalttätig sind?

Ich glaube, dass die  Unterhaltungsindustrie – allen voran die Telenovelas – einen kulturell gewaltigen Einfluss auf die Lebensgeschichten der Einzelnen und der Weltgeschichte ausüben. Sie kommen daher, wie wenn sie keinen Anspruch und keinen Bildungsinhalt hätten – lustig, höhnisch, manchmal  menschenverachtend resp. bestimmte Menschengruppen verachtend. Besonders das einfache Strickmuster, dass «die Guten» alles dürfen, einfach weil sie die Guten sind, ist verführerisch – aber brandgefährlich. Meiden Sie besonders bei kleinen Kindern alle Hohn- und Verachtungsgeschichten. Die Menschenwürde soll auch im Kinderzimmer und in der frühen geistigen Nahrung unantastbar sein.