23. Februar 2019

Was jeder tut, ist wohlgetan

Was jeder tut, ist wohlgetan
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Das war im vorletzten Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit. Sich abheben vom «Jedermann» scheint heute die Forderung. Ist Populismus eine dialektische Reaktion auf zu hoch gesteckte Forderungen nach Individualität und Eigenverantwortung? Könnte es sein, dass die Forderungen nach «Liberalisierung» in Kultur, Gesellschaft und Erziehung viele überfordert hat?

Vor hundert Jahren endete der Autoritätsglaube breiter Volksmassen und der unkritische oder ihnen brutal abgeforderte Gehorsam in der Katastrophe eines vernichtenden Krieges. Er entzog den gewöhnlichen Menschen im Lande – und vor allem in den Städten – alle Lebensgrundlagen. Die Generation der damals Erziehungs­verantwortlichen spaltete sich in jene, die die alte Ordnung (sprich Unterordnung) wieder herbeisehnten und jene, die gerade in der  Wiederherstellung dieser Ordnung eine Gefahr sahen. Die Mündigkeit des Bürgers und bereits des Kindes krempelte die Erziehungszielsetzungen um.

Nonkonformismus

Im versehrten Europa der zwanziger Jahre wird Nonkonformismus zu einem kulturellen Leitstern, vor allem in den Städten. Jede Ordnungsliebe ist verdächtig. Doch eine geltende Ordnung ist Voraussetzung, damit ein Zusammenleben organisiert werden kann. Also muss in vielen Ländern (besonders in den deutschsprachigen und den neuen im Osten Europas) ein neues politisches System aufgebaut werden.

Aber die Vertreter der Ordnung – seien es Polizisten, Politiker oder «Pauker» – sind verdächtig und nur zu oft auch reaktionär, das heisst in Denkgewohnheiten der Unterordnung und des Kadavergehorsams, geschult. So bieten jene Agitatoren, die ordnungsauflösend operieren (Anarchisten, Libertinäre) auf der einen Seite verführerisch gute Gründe, sich gegen alle Forderungen «von oben» aufzulehnen. Die daraus erwachsenden chaotischen Zustände, wie sie nach jedem Zusammenbruch (ob Revolutionsende oder nach Kriegen) entstehen, stärken anderseits bei breiten Bevölkerungskreisen den Ruf nach einer klaren, verlässlichen Ordnung.

Was jeder tut, ist wohlgetan

Es kommt zum Kampf der Extreme, der eine ausgewogene Mitte wegfegt. Man muss Flagge zeigen, muss für oder gegen sein. Wer in so einem Ringen siegt, wissen wir; und ich fürchte, es lag nicht nur an der ausgefeilten Propaganda der Nazis, sondern auch am Lebenswillen und am Bedürfnis nach einem Leben, in dem Alltägliches seinen geregelten Gang geht.

Wechselbäder

Die Geschichte hat sich nach dem zweiten Weltkrieg nahezu wiederholt. Gesellschaftliche Werte unterliegen dem sogenannten Zeitgeist. Wieder steht der Sehnsucht nach Ordnung und Ruhe die Furcht vor Autoritarismus und lähmendem Konformismus gegenüber. Diesmal geht der Kampf mehr oder weniger glimpflich aus. In den Studentenrevolten 1968 erheben sich breite Kreise der jungen Generation gegen die Rückkehr des autoritären Patriarchats. Die Proteste führen nicht zu einem Umsturz, aber doch zu tiefgreifenden Änderungen des gesellschaftlichen Klimas. Die geltende Ordnung wird zwar nicht radikal gestürzt; aber gewisse Kreise, die autoritäre Hierarchiezustände des 19. Jahrhunderts restaurieren wollen, verlieren doch gewaltig an Einfluss.

Was jeder tut, ist wohlgetan

Nicht zuletzt werden auch weibliche Stimmen und Wertvorstellungen im gesellschaftlichpolitischen Leben überhaupt erstmals ernst genommen und schliesslich (mit)bestimmend (übrigens ein Zustand, wie er in den Zwanzigerjahren schon mal ein Stück weit gediehen war).

Nur kein «Normalo»!

Die Befreiung vom Autoritären in Gesellschaft und Erziehung hatte gute Jahre vor sich.

«Antiautoritäre Erziehung (jedenfalls als Schlagwort) erlebte grosse Resonanz.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

In der Mode und im Kunstbetrieb war mit Tradition kaum noch ein Blumentopf zu gewinnen. Nur das Extravagante, das Schockierende und – zunehmend – das Respektlose wurden kulturell hoffähig. Nur nicht ein Normalo sein.

Noch weniger empfahl sich, angepasst aufzutreten oder gar «normal» als Wert zu propagieren. Kreativität wird zur Lebensmaxime. Jede und jeder soll sich selbst erfinden. Auch die protestantische Forderung nach eigener Verantwortung, die nur Gott gegenüber Rechenschaft schuldig ist, dient der Befreiung des Individuums. Die individuelle Freiheit wird zum höchsten Wert auf die Fahnen der westlichen Welt geschrieben. Auch in der Ästhetik der Städte gelten keine Regeln mehr, «everything goes». Tatsächlich?

Die Rückkehr des Konformen

Wer kann im Alltag immer kreativ sein und alles selber verantworten? Gegenspieler der grossen Befreiung ist die Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Dazugehören und Anerkennung. Nonkonformismus wird konform. Agenturen und Werber nehmen sich der Heimatlosen und Überforderten an, indem sie Kreativitätskurse anbieten (die meist eher Bastelanleitungen sind) und extravagante Kleider an den Mann und vor allem an die Frau bringen. Nonkonform als «Mainstream» ist zwar ein Widerspruch in sich, wird aber bereitwillig aufgenommen. Die Wörter werden ausgehöhlt, das Oppositionelle zum Zeitgeist. Nur der Sinn des Ganzen und was die ganze Entwicklung angestossen hatte, verschwindet im Bewusstsein.

Und was machen die, die gar nicht kreativ sind und vielleicht auch gar nicht originell sein wollen? Was machen die, die mit ihrer individuellen Freiheit wenig anfangen können, weil sie beispielsweise einen zu niedrigen Lohn haben, um sich Freizeitvergnügen leisten zu können? Was machen die, die sich nach Anerkennung ihrer Arbeit durch einen Vorgesetzten sehnen? Jene, die einfach leben wollen, ohne sich für alles verantwortlich fühlen zu müssen? Jene, die sich im Konformen behaglich fühlen und sich nicht ständig hinterfragen (lassen) wollen? Nicht jeder kann sich einen Sinn für sein Leben selber entwickeln.

Dialektik anstatt «Sowohl-als-auch»!

Ich bin froh, wurde der Autoritätsglaube früherer Generationen abgelöst. Der darauffolgende Glaube an Selfmademen respektive -women, der in modernen Heldengeschichten die Jugend leiten soll, ist mir aber zunehmend suspekt oder gar ungeheuer. Weder der legendäre Tellerwäscher noch der selbsternannte Selbstverteidiger, der im Namen einer Ordnung herumballert – die er nur mit seinem persönlichen Gerechtigkeitssinn legitimiert – können mich als gepriesene Segnung der Freiheit begeistern. Es gibt eben nicht nur entweder die Superhelden als Selbstvollstrecker oder die Untertanen als willenlose Gefolgsleute. Gefährlich ist die Verkürzung auf die Extreme.

«Reflektierter Gehorsam – oder besser "selbstverantworteter Gehorsam" – und relative Selbstbestimmung, die Umstände und Bedürfnisse der Mitwelt einbeziehen, setzen das Gegensatzpaar "Selbstbestimmtheit" und "Unterordnung" in Beziehung zueinander. Den Schritt über das kleinkindliche Denkmuster "Entweder-oder" muss man lernen.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Kindern ist zu helfen, dialektisch zu denken (siehe Artikel): Sie sollen die Forderungen, die als Regeln an sie herangetragen werden, mit den eigenen Wünschen abwägen. Da kann ein Konflikt entstehen: Das Bedürfnis nach Ruhe von Mitmenschen (Forderung) kann mit dem Wunsch, Schlagzeug zu spielen, kollidieren. Das Anerkennen der Berechtigung beider Seiten öffnet erst den Weg zum Entscheid, was jetzt zu tun sei.

Populismus und Gegenpopulismus

Populisten behaupten, Lösungen zu haben, die allen ihren Zuhörern alle Wünsche erfüllen. Es nützt aber nichts, den Zuhörern zu sagen, sie seien Dummköpfe, wenn sie den Versprechungen Glauben schenken. Diese Arroganz gewisser etablierter Meinungsmacher könnte man reaktionären Populismus nennen. Wenn sogenannte «Populisten» applaudierende Zuhörer finden, bedeutet dies, dass sie etwas aussprechen, was bei diesen Zuhörern gärt. Wenn Sektierer bei Jugendlichen Anklang finden, heisst das, dass sie bei ihnen ein Bedürfnis oder ein drängendes Gefühl ansprechen.

Was jeder tut, ist wohlgetan

Das Bekämpfen der Propagandisten nützt höchstens in der Propagandaschlacht für die eigene Botschaft und erreicht meist nur diejenigen, die eh schon Parteigänger sind.

«Besser ist, sich damit zu befassen, welche Wünsche, Nöte und Ängste Populisten bedienen. Dann können wir sie als Seismographen verstehen, die die untergründigen Strömungen und Spannungen in bestimmten, eventuell übersehenen Gesellschaftskreisen an die Oberfläche heben.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Vielleicht hat eine nächste Generation nicht dieselben Schreckensbilder und Sehnsüchte, wie wir sie unserer Biografie entnehmen. Vielleicht ist vieles schon erreicht und die Forderung nach noch mehr nicht mehr zeitgemäss.

Hat die individuelle Freiheitssuche (mit ihren gewaltigen Erfolgen in Europa) das Ziel erreicht und schlägt das Pendel in Richtung «Bedürfnis nach Konformismus, Anstand, verlässliche Regeln (die auch durchgesetzt werden)» zurück? Dieser Pendelausschlag wäre nicht als Rückschritt zu verstehen, sofern er nicht in die alten Formen des autoritären Patriarchats abgleitet. Es besteht die Chance, dass er zum Neuauspendeln zwischen den Polen «Anpassung» und «Selbstbestimmung» führt. Vertun wir diese Chance nicht mit zu viel Abwehr oder Häme gegenüber den Gefolgsleuten von Populisten. Sie nicht ernst nehmen, ihre Gefolgsleute als blöd hinstellen und vor allem das Übersehen der dahinter liegenden Sehnsüchte, Wünsche und Ängste machen sie erst richtig stark.