Wer kennt sie nicht, die zahlreichen Vorsätze am Jahresende: Abnehmen, mehr Sport machen, gesünder essen, mit dem Rauchen
aufhören, weniger Zeit am Handy/Computer verbringen … Doch schon nach wenigen Tagen im neuen Jahr sind die Vorsätze Geschichte.
Der Mensch ist bekanntlich ein Gewohnheitstier. Erinnern Sie sich, was sie heute Morgen nach dem Aufstehen gemacht haben? Als erstes das Handy angeschaut und die Nachrichten gecheckt? Die Kaffeemaschine eingeschaltet, bevor Sie duschen gegangen sind? Welchen Weg sind Sie zur Arbeit gefahren? Haben Sie am Arbeitsplatz wiederum zuerst die Mails angeschaut und dazu einen Kaffee getrunken? Was haben Sie nach der Arbeit bei der Rückkehr in die Wohnung gemacht? Die Schlüssel an den dafür bestimmten Ort abgelegt, einen Drink genommen? Knabbern Sie vor dem Fernseher regelmässig Chips und Nüsschen? Haben Sie mal darauf geachtet, wie viel Sie täglich gleich machen, obwohl Sie die Wahl hätten? Wie oft Sie zur gleichen Tasse im Regal greifen? Oder sich für dasselbe Kantinenessen entscheiden? Und ihren Wagen auf denselben Parkplatz stellen, obwohl er nicht eigens für Sie reserviert ist und auch andere frei gewesen wären?
Wir lieben vertraute Routinen und Rituale; sie geben uns Sicherheit und befriedigen damit eines unserer Grundbedürfnisse. Viele unserer Gewohnheiten erwerben wir unmerklich. Das gilt für den Umgang mit Dingen ebenso wie für den Umgang mit anderen oder uns selbst. Die meisten Entscheidungen, die wir jeden Tag treffen, mögen sich wie das Resultat sorgfältiger Abwägungsprozesse anfühlen – aber das sind sie nicht. Sie sind schlicht und einfach Gewohnheiten.
Und obwohl jede Gewohnheit, für sich genommen, relativ wenig bedeutet, hat deren Gesamtheit – etwa die Speisen, die wir bestellen, oder das, was wir einkaufen, das, was wir allabendlich unseren Kindern erzählen, ob wir sparen oder Geld ausgeben, wie oft wir Sport treiben und die Art und Weise, wie wir unsere Gedanken und Arbeitsabläufe organisieren – enorme Auswirkungen auf unsere Gesundheit, unsere Produktivität, unsere finanzielle Situation und unser Wohlbefinden.
«Zwischen 30 und 50 Prozent unseres täglichen Handelns werden durch Gewohnheiten bestimmt, Informationen ändern daran so gut wie nichts», sagt Bas Verplanken, Professor für Sozialpsychologie an der University of Bath in England. Er erforscht die Gewohnheiten seit über 20 Jahren. Wenn sie mit unseren Zielen übereinstimmen, sind sie uns nützlich, manchmal sogar überlebenswichtig. Tun sie das nicht, stören sie oft nur, rauben uns Zeit, Energie und schädigen manchmal auch unsere Gesundheit.
Einige tägliche Gewohnheiten sind simpel: Wir drücken automatisch Zahnpasta auf die Zahnbürste, bevor wir diese in den Mund stecken. Andere sind etwas komplexer, etwa ein Auto aus einer Einfahrt rückwärts wegzufahren.
Ein effizientes Gehirn erlaubt uns, nicht mehr unentwegt über grundlegende Verhaltensweisen nachdenken zu müssen – wie etwa das Gehen oder die Essensauswahl – sodass wir mentale Energie für Neues aufwenden können.
Trotzdem – oder gerade deshalb – können wir uns Gewohnheiten zunutze machen. Wer jedoch weiss, wie eigene Mechanismen funktionieren, der kann sie auch verändern. Nicht nur die eigenen, sondern auch die in der Firma, im Freundeskreis oder im Verein. Wir kennen das aus der Werbung: Produkte werden zu Verkaufsschlagern und Angestellte oder Kundinnen manipulierbar. Wer die richtigen Bedingungen schafft, kann Konsumenten oder Mitarbeiterinnen dazu bringen, genau die Gewohnheiten auszubilden, die den gewünschten Zielen dienen.
Veränderungen stellen sich oft nur langsam ein und sie sind auch nicht immer einfach. Wer sich «einfach» nur vornimmt, ab morgen das Rauchen aufzugeben, gesund zu essen und täglich zu joggen – so der amerikanische «New York Times»-Reporter und Sachbuchautor Charles Duhigg in seinem Buch «Die Macht der Gewohnheit» –, wird höchstwahrscheinlich nach ein paar Tagen mit seiner Willenskraft hadern und weiterleben wie bisher.
«Wir müssen zuerst den Mechanismus verstehen, nach dem Gewohnheiten ablaufen», so Duhigg, «erst dann können wir unsere Handlungen wieder steuern». Im Zentrum dieses Plans steht die Veränderung einer Abfolge aus Auslösereiz, Routine und Belohnung. Duhigg nennt diese Abfolge eine Gewohnheitsschleife und illustriert sie so: Jeden Tag um 15 Uhr vom Schreibtisch aufstehen, in der Kantine ein Stück Kuchen kaufen, ein wenig mit Kollegen schwatzen und dann entspannt zurück an den Arbeitsplatz gehen. Dass diese Gewohnheit vielleicht mit dem negativen Nebeneffekt einer stetigen Gewichtszunahme verbunden ist, nehmen wir im Moment in Kauf. In ihrer Gleichförmigkeit verleiht uns eine solche Gewohnheit Stabilität, ein Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden.
Das ist schon zu Beginn des Lebens wichtig: Für Kinder wirkt das Märchen im immer gleichen Wortlaut wie eine Verschnaufpause. In einer Welt voller Neuigkeiten ist für eine Weile jede Silbe vorhersagbar. Und später, im Alter, wenn das Sehen und Denken schwerer fällt, ist ein selbstständiger Alltag oft nur noch dank routinierter Handgriffe möglich.
Mit Geduld und Beharrlichkeit lassen sich die meisten schlechten Gewohnheiten durch bessere ersetzen. In diese Gewohnheitsschleife war auch die 42-jährige Sybille M., Inhaberin einer Werbeagentur, geraten. Nach einem stressigen Arbeitstag gönnte sie sich tagtäglich, kaum war sie zu Hause, eine Belohnung, die für sie und viele Menschen zum Ritual geworden ist: Sie entspannte sich mit einem Glas Wein auf dem Sofa. In Sybille M.s Fall war die abendliche Stunde der Auslöser der Gewohnheit, der Griff zum Wein die Routine und die eintretende Entspannung die Belohnung. Irgendwann begann sie sich zu fragen, ob es wirklich gut sei, jeden Tag Wein zu trinken. Fest entschlossen, diese Angewohnheit abzustellen, lief sie fortan beim Einkauf am Weinregal vorbei und beschäftigte sich stattdessen mit dem grossen Angebot an Teesorten. Seitdem bereitet sie sich jeden
Abend eine Kanne Tee zu. Der entspannt sie genauso, aber mit einem besseren Gefühl.
Natürlich könnte man einwenden, dass es sich bei dieser Gewohnheit um ein lässliches Laster handelt, verglichen beispielsweise mit dem Rauchen, das wir als Sucht einordnen. Aber dass sich selbst Süchte überwinden lassen, wenn das Timing stimmt, belegen viele Beispiele. Jahrelang hatte ein Banker mit verschiedenen Methoden versucht, sich das Rauchen abzugewöhnen – jedes Mal vergeblich. Als er seine neugeborene Tochter zum ersten Mal in den Armen hielt, durchfuhr ihn der Gedanke: «Ich will nicht, dass mein Kind mit den Zigarettengiften in Kontakt kommt.» Der 35-Jährige hat sich seit diesem Tag keine Zigarette mehr angezündet.
Ist die Bereitschaft, sich zu ändern, hinreichend gross, stehen die Chancen gut, im Gehirn so etwas wie eine neue «Software» zu installieren. Unsere Gewohnheiten sind, so mächtig sie auch wirken, also durchaus nicht unser unveränderbares Schicksal. Wollen wir eine (schlechte) Gewohnheit ändern, müssen wir als erstes ein paar Gedanken in die Überlegung investieren, welche Muster uns steuern; also die Abfolge aus Auslösereiz, Routine und Belohnung anschauen. Wenn wir uns dann in einem günstigen Moment realistische Ziele setzen, können wir aus dem Kreislauf der ungewollten Wiederholungen ausbrechen.