26. Januar 2022

Murat Yakin – Hand aufs Herz

Murat Yakin – Hand aufs Herz
Lesezeit ca. 10 min
Fotos: SFV

Der 1. August ging 2021 auch aus fussballerischer Sicht in die Schweizer Geschichtsbücher ein. Murat Yakin wurde als künftiger Nati-Trainer angefragt. Ob der gebürtige Münchensteiner ein Glas Bordeaux darauf trank, ist nicht überliefert. Im Interview lässt der Taktikfuchs tief blicken, verrät, wie er mit Lobeshymnen umgeht, was Heimat für ihn bedeutet und gibt einen Einblick in seine Stiftungsarbeit.

Muri, du hast als Nati-Trainer die direkte WM-Qualifikation geschafft. Was löst das in dir aus?

Wir haben uns gegen den amtierenden Europameister Italien auf fremdem Platz einen wichtigen Punkt erkämpft und ihn letztlich am letzten Spieltag durch den klaren Sieg gegen Bulgarien in der Tabelle überholen können. Der Fussballgott meinte es gut mit uns. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, das wir als Einheit auf und neben dem Platz geschafft haben. Als Teamplayer geniesse ich diese Harmonie und schöpfe Kraft für die nächsten Aufgaben, die uns bevorstehen.

Foto von Murat Yakin

Nationalspieler, Clubtrainer und jetzt Nati-Coach: Hättest du dir das je träumen lassen?

Natürlich macht man sich im Fussballgeschäft Hoffnungen auf den Posten des Nati-Trainers. Schliesslich hat jeder seine eigenen Visionen. So auch ich. Während meiner Zeit als Clubtrainer fokussierte ich mich vollkommen auf diese Aufgabe. Das Thema Nationalmannschaft war zu der Zeit noch in weiter Ferne. Die aktuelle Situation zeigt, dass im Sport vieles möglich ist. Mich persönlich erfüllt es mit Stolz und Dankbarkeit, Fussballnationaltrainer der Schweiz sein zu dürfen. Ich habe dem Land sehr viel zu verdanken und habe nun die Möglichkeit, etwas zurückzugeben.

Was bedeutet für dich Heimat?

Für mich ist Heimat überall dort, wo ich mich wohlfühle und das mir entgegengebrachte Vertrauen spüre. Heimat bedeutet für mich Menschlichkeit.

Du hast es von ganz unten nach ganz oben geschafft. Welche Erinnerungen hast du an deine Kindheit?

Sehr schöne. Ich stamme aus einer Grossfamilie, in der wir uns gegenseitig unterstützen. Die Yakins streben nicht nach noch mehr, wie viele zu wissen glauben, sondern geben sich mit dem zufrieden, was sie haben. Und das Wichtigste daran ist, dass wir es zu schätzen wissen.

Euer Verhältnis zur Mutter ist speziell. Liegt es am schweren Päckli vergangener Tage, das sie schultern musste, oder eher daran, dass sie eine Offizierstochter ist?

Etwas selbst zu erleben ist etwas anderes, als es erzählt zu bekommen, so wie es in meinem Fall war. Wenn man weiss und nachvollziehen kann, was meine Mutter als alleinerziehende Frau durchgemacht hat, versteht man vielleicht meine grosse Bewunderung, die ich für diese Frau empfinde. In einer sehr schwierigen Lebensphase acht Kinder grosszuziehen, ohne der Sprache mächtig zu sein, ist kein Zuckerschlecken. Dass sie uns Kinder trotz der Gegebenheiten aufopferungsvoll behütet und unterstützt hat, ist nicht selbstverständlich und verdient unser aller Respekt. Viele tuscheln darüber, dass unsere Mutter an fast allen Trainings und Spielen vor Ort war und heute teilweise noch ist. Für uns war und ist das selbstverständlich und spiegelt unseren familiären Zusammenhalt wider. Das ist auch heute noch so, wenn unsere Mutter mit ihren 88 Jahren im Olympiastadion zu Rom, anschliessend in Luzern und schliesslich in Schaffhausen im Publikum sitzt und mitfiebert. Sie ist auch heute noch unsere grösste Kritikerin.

Fotos: Privatarchiv Murat Yakin

Wie gross sind – neben Mutter Emine und Bruder Ertan – die Anteile von Werner Decker, René Rietmann, Heinz Bühlmann und Erich Vogel an eurer Erfolgsgeschicht?

Es sind nur ein paar wenige Menschen, die uns auch neben dem Platz – so zum Beispiel während des Integrationsprozesses – unterstützt und unter die Arme gegriffen haben. Werner Decker beispielsweise war nicht nur als Fussballtrainer ein regelrechter Glücksfall für unsere Familie; er hat uns in seiner Metallbaufirma nicht nur die Ausbildung ermöglicht, sondern uns auch mit Kleidung ausgestattet. Denn als Grossfamilie und Sozialhilfebezüger war das Geld knapp. All die Unterstützung hätten wir nicht erhalten, wenn all die Menschen, die uns in der schwierigen Zeit mit Rat und Tat zur Seite standen, nicht auch unsere Wertschätzung und Dankbarkeit gespürt hätten. Alle unsere Wegbegleiter sind ein Grundstein unseres Erfolges; ohne sie wären wir nicht das, was wir heute sind. Ihnen allen gebührt unser grösster Respekt.

Muri unterschrieb seinen laufenden Vertrag in Muri. Hoffentlich in einem Büro und nicht wie einst in der Umkleidekabine (Muri) oder Autobahnraststätte (Haki)?

Ja, das stimmt. In Ibach, wo ich in der Umkleidekabine meinen Vertrag unterschrieb, wurden sogar die Schiedsrichter aus der Kabine verwiesen, damit das Prozedere in Ruhe abgewickelt werden konnte (lacht herzhaft).

Während du bereits in jungen Jahren Verantwortung übernommen hast, wuchs Hakan eher behütet auf. Wie denkst du heute darüber?

Nach dem fussballerischen Wegzug von Ertan nach St.Gallen musste ich bereits als 13-Jähriger in die Bresche springen. Ob Behördengänge, das Ausfüllen wichtiger Formulare oder Hakis Elternabende in der Schule, alles blieb an mir hängen. Ausgesucht habe ich mir das nicht, aber ich habe es gerne erledigt und versucht, meine Familie auf diese Weise zu entlasten. Es war meine Art, etwas an meine Mutter zurückzugeben. Es war eine Zeit, die mich bis heute prägt. Sie war aber sicher auch hilfreich für meinen späteren Lebensweg.

Der Fussball hat euch viel gegeben. Würdest du sagen, er hat euch auch vieles genommen?

Während meiner aktiven Zeit habe ich daran keinen Gedanken verschwendet. Für uns war Fussball das Wichtigste und fühlte sich richtig an. Zu kurz gekommen bin ich wegen meiner Leidenschaft sicher nicht. Die wenige Freizeit, die mir blieb, habe ich, sagen wir, «intensiver gelebt». Und genossen. Verpasst habe ich sicher nichts.

Friedel Rausch, Christian Gross, Joachim Löw, Winfried Schäfer, «König Otto»Rehhagel oder Andreas Brehme sind ehemalige Trainer von dir. Wie denkst du heute über sie?

Alles grosse Namen, mit denen ich als Spieler auch im internationalen Fussballgeschäft grosse Erfolge feiern durfte. Mit einigen stehe ich noch heute in engem Kontakt. Mit denen, die nicht auf gleicher Wellenlänge lagen, habe ich keinen Kontakt mehr. Was ich sicher sagen kann, ist, dass ich mir von allen etwas abgeschaut habe und dankbar bin, mit ihnen zusammengearbeitet zu haben. Letztlich muss aber jeder seinen eigenen Weg gehen.

Leo Beenhakker, Köbi Kuhn und Hanspeter Zaugg dürften hingegen Glücksgefühle auslösen?

Grossartige Namen. Leo Beenhakker, der den Grasshopper Club Zürich einen fantastischen Fussball spielen liess. Otto Rehhagel, der eher harmoniebedürftig und familiär veranlagt war und Jogi Löw, bei dem – im Nachhinein betrachtet – das Gesamtpaket stimmte. Unter Christian Gross habe ich gelernt, den Fussball als Beruf zu schätzen und auch vieles in Sachen Disziplin mit auf den Weg bekommen. Generell kann ich sagen, dass ich es mit all meinen Trainern gut hatte. Ich habe ihnen und sie auch mir den nötigen Respekt entgegengebracht. Auch wenn ich nicht der Fleissigste im Training war, konnten alle auf mich zählen, wenn es darauf ankam.

Wieviel von der Zusammenarbeit mit den genannten Fussballlehrern kommt dir heute als Trainer zugute?

Der heutige Fussball ist breit gefächert und ein Sammelsurium an Gegebenheiten, die ineinandergreifen müssen. Angefangen bei den unterschiedlichen Spielertypen, den Charakteren, der kulturellen Herkunft bis zu den athletischen Hintergründen der Spieler. Da ist es schwierig, einen Namen zu nennen. Ich würde eher sagen, ich habe mir von jedem Einzelnen etwas in mein Rucksäckli gepackt und mich zu dem Trainer entwickelt, der ich heute bin. Letztlich geht es darum, authentisch zu bleiben.

Als Fussballer galtet ihr eher als «trainingsfaul»; wie hältst du dich heute fit?

«Trainingsfaul» würde ich es nicht nennen. Sicher kamen mir mein Talent und die Spielfreude zugute. Entscheidend für mich waren die Wettkampfsituationen. Das, was unter der Woche über die Bühne ging, gehörte zum Geschäft dazu. Was ich von mir sagen kann, ist, dass ich auf den Punkt parat war und die Leistung ablieferte, die von mir erwartet wurde. Um es schulisch auszudrücken: Ich habe meine Hausaufgaben immer gemacht und zur Zufriedenheit aller erledigt.

«Was das Thema eigene Fitness angeht, muss ich gestehen, dass sportliche Aktivitäten in der letzten Zeit etwas zu kurz gekommen sind. Aber im Laufe der Zeit und der zunehmenden Erfahrung habe ich gelernt, mich gesund zu ernähren. Der Job als Nati-Trainer ist sehr fordernd. Da muss ich geistig, aber auch körperlich im Vollbesitz meiner Kräfte sein. Dazu zählt für mich neben ausreichender Erholung auch gesunder Schlaf.»
Murat Yakin
Nati-Trainer

Um dich von deinen Kilos zu befreien, habe dir Gilbert Gress einst Reis und Huhn vorgesetzt. Wie sieht dein heutiger Ernährungsplan aus?

Das, was Monsieur Gress damals revolutionieren wollte, ging schlicht und einfach nicht. Es war nahezu unverantwortlich, den Körper auf diese Weise zu strapazieren und zugleich in kürzester Zeit auf Höchstleistungsniveau zu drillen.

Du zählst zu den meistfotografierten Menschen der Schweiz. Fluch oder Segen?

Es macht mir nichts aus, in der Öffentlichkeit zu stehen. Ich geniesse den Moment, kenne aber auch die Schattenseiten dieses Daseins. Es ist Teil des Jobs – und dessen bin ich mir bewusst. Letztlich mache ich das, was ich tue, nicht für mich allein, sondern schwitze tagtäglich zusammen mit meinem Staff und meiner Mannschaft für den bestmöglichen Erfolg der Schweizer Nation, die mir sehr am Herzen liegt.

Du hast das Herz nicht nur als Sportler am rechten Fleck. Erzähl uns von «Murat Yakin & Friends».

«Murat Yakin & Friends» feiert im kommenden Jahr sein 20-jähriges Bestehen. Die Gründung der unabhängigen, familiär geführten Stiftung erfolgte zu meiner aktiven Zeit in Basel. Sie setzt sich für Benachteiligte sowie psychisch kranke Kinder, deren Eltern und Angehörige ein. Wir greifen je nach Anfrage anderen Stiftungen, Organisationen, Institutionen, aber auch Privatpersonen unter die Arme und sehen uns als helfende Hand. Die Stiftung finanziert sich durch Spendengelder und Anlässe, die wir immer wieder durchführen.