26. Januar 2022

Suchtkrankheit oder Depression: grosse Herausforderung für Angehörige

Suchtkrankheit oder Depression: grosse Herausforderung für Angehörige
Lesezeit ca. 7 min

Partner, Geschwister und Freunde stehen einander bei. Doch manche Probleme, wie etwa eine Suchtkrankheit oder Depression, bringen sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit.

Belastet, überfordert, ohnmächtig

Klara F. weiss: wenn ihr Handy zur Unzeit klingelt, ist es entweder ihre Schwester, die Polizei oder ein Spital. Ihre Schwester hat ein chronisches Alkoholproblem, das immer wieder zu unangenehmen Situationen führt. Manchmal ruft sie angetrunken an und macht Klara F. Vorwürfe. Gelegentlich stürzt die alkoholisierte Frau und wird von der Polizei oder der Sanität aufgegriffen. Dann wird Klara F. als nächste Bezugsperson benachrichtigt. Die Alkoholabhängigkeit ihrer Schwester belastet Klara F. Oft fühlt sie sich damit überfordert und auch ohnmächtig. Manchmal steigt Wut in ihr hoch: Ihre Schwester bringt für sie seit Jahren nichts als Ärger und Frustrationen mit sich; Klara F. schämt sich für sie.

Fremdbestimmt von der Sucht

Langzeitleiden, Unfallfolgen sowie körperliche und geistige Beeinträchtigungen bedeuten für die Angehörigen der Betroffenen grundsätzlich hohe Belastungen im Alltag. Ganz besonders anspruchsvoll ist der Umgang mit Menschen, die an einer Suchtkrankheit leiden. Ihr ganzes Wesen ist durch das Suchtmittel fremdbestimmt; sie können ihr Verhalten nicht mehr vollständig kontrollieren. Und sie sind nicht fähig, Verantwortung für sich selber zu übernehmen. Sie gehen vor allem im Strassenverkehr ein hohes Unfallrisiko ein.

Die offiziellen Zahlen: Rund 250 000 Personen werden in der Schweiz als alkoholabhängig eingestuft; 60 000 Personen gelten als medikamentensüchtig; rund 80 000 Personen haben ihren Cannabis-Konsum nicht mehr unter Kontrolle. Gemäss Schätzung konsumieren in der Schweiz 150 000 Personen regelmässig Kokain. Im Weiteren können auch sogenannte nicht-stoffgebundene Abhängigkeiten, wie etwa Spielsucht, Ess-Brech-Sucht und ständiges Gamen, Menschen völlig vereinnahmen und ihren Charakter negativ verändern. Ihre Aktivitäten und ihre Aufmerksamkeit sind weitgehend auf ihr Suchtthema eingeschränkt, sie vernachlässigen ihre zwischenmenschlichen Beziehungen und oft auch sich selbst. Für wohlmeinende Ermahnungen sind sie kaum mehr zugäglich.

Mantel des Schweigens

Niemand erzählt gerne von der Kokainsucht des Bruders oder von den Alkoholproblemen seiner Partnerin. Dies bedeutet, dass die Angehörigen vieles für sich behalten müssen, was sie psychisch belastet und bedrückt.

«Noch immer werden Suchtprobleme in breiten Kreisen der Gesellschaft fälschlicherweise als Willensschwäche interpretiert. Aus wissenschaftlicher Sicht liegen die Ursachen für eine Abhängigkeitserkrankung in einem ungünstigen Zusammenwirken von genetischen, sozialen und psychologischen Ursachen; mit mangelnder Selbstdisziplin haben sie kaum etwas zu tun.»
Adrian Zeller

In nüchternen Momenten erkennen viele suchtkranke Menschen, in welch verfahrener Situation sie sich befinden: Der Arbeitsplatz steht auf der Kippe, die Partnerschaft ist bedroht, körperliche Beschwerden nehmen zu und die Finanzen stehen nicht zum Besten. Um diesem ganzen Dilemma nicht in die Augen sehen zu müssen, greifen sie ein weiteres Mal zur Flasche oder zum Joint. Oftmals verharmlosen sie ihren Rauschmittel–Missbrauch, sie verdrängen ihre tatsächliche Situation. Oder aber sie reagieren gereizt und empört, wenn sie auf die zu vielen Drinks oder Joints angesprochen werden. Dadurch werden die Suchtprobleme zur tickenden Zeitbombe, die niemand gerne anspricht.

Suchtkrankheit oder Depression: grosse Herausforderung für Angehörige

Angehörige unter Daueranspannung

Nicht nur der suchtkranke Mensch selber leidet unter seiner Krankheit, sie bringt auch die Angehörigen oft an ihre Grenzen. Beispielsweise dann, wenn die Partnerin ihren alkoholkranken Mann immer mal wieder wegen einer angeblichen Grippe bei seinem Arbeitgeber krankmelden muss. In Tat und Wahrheit ist er schwer verkatert und kommt nicht aus dem Bett.

«Suchtkranke Menschen lösen bei Menschen in ihrer Umgebung Daueranspannung aus, weil jederzeit mit neuen Abstürzen, Wutausbrüchen und Problemen am Arbeitsplatz zu rechnen ist. Und sie sorgen bei den ihnen nahestehenden Menschen immer wieder für ein extremes Wechselbad an Gefühlen: dazu gehören Angst, Wut, Ohnmacht, Ekel und Mitleid.»
Adrian Zeller

Abhängigkeitsleiden sind oft von Fortschritten und Rückschlägen gekennzeichnet. Abhängigkeitskranke untergraben die Lebensqualität der Angehörigen unbeabsichtigt erheblich. So werden beispielsweise Geburtstagseinladungen bei Verwandten mit einer Ausrede abgesagt, weil der alkoholkranke Vater oder die Mutter dort zu viel trinken und in der Folge Streit beginnen würde.

Für Partner und Verwandte ist es daher wichtig, darauf zu achten, dass ihre Lebensqualität nicht zu sehr von der Suchtkrankheit einer Person in ihrem Umfeld beeinträchtigt wird. Wenn sie zunehmend auf Verwandtentreffs, auf Ausflüge und Weiteres mehr verzichten müssen, damit es dabei nicht zu Alkoholexzessen kommt, werden die Vergnügen im Alltag immer weniger. Dies kann mit der Zeit zu Freudlosigkeit und einer gedrückten Stimmung führen.

Abhängigkeitsleiden können in der Regel nur mit professioneller Unterstützung überwunden werden. Oft muss die gesundheitliche, finanzielle und zwischenmenschliche Situation der Betroffenen geregelt werden, bevor ein suchtfreier Neuanfang möglich wird.

Herausforderung: psychische Erkrankungen

Neben Abhängigkeitserkrankungen können weitere Leiden für die Angehörigen zur grossen Herausforderung werden. Dazu zählen Demenz, Angststörungen, Psychosen und Depressionen.

Von einer Depression spricht man, wenn jemand während mindestens zwei Wochen von einer niedergedrückten Stimmung betroffen ist, ständige Freudlosigkeit empfindet und seine Interessen verliert, sein Schlaf dauerhaft verändert ist: Betroffene können nicht einschlafen, durchschlafen, erwachen früh oder schlafen viel. Das Essverhalten kann sich in Richtung Appetitlosigkeit oder Heisshunger verändern. Weitere Anzeichen können innere Unruhe, Antriebslosigkeit, Konzentrationsstörungen, Interessenverlust sowie sozialer Rückzug sein. Rund 15 Prozent der Bevölkerung wird einmal oder auch mehrfach im Leben von einer depressiven Störung erfasst. Diese können leicht, mittelschwer oder sehr ausgeprägt auftreten.

In den letzten Jahren haben sich die Behandlungsmöglichkeiten erheblich verbessert. Es stehen neben den Hausärzten auch Beratungsstellen, Ambulatorien, Tageskliniken, Selbsthilfe- sowie Angehörigengruppen zur Verfügung. Die erweiterten Angebote an fachlicher Unterstützung machen das Leiden für Erkrankte wie auch für Angehörige erträglicher.

Suchtkrankheit oder Depression: grosse Herausforderung für Angehörige

Selbstfürsorge ist wichtig

Depressive Menschen leben aufgrund einer Botenstoffstörung im Gehirn in einer Art Schattenwelt. In der Folge ist ihr Gefühlsleben erheblich reduziert. So können sie sich während der Krankheitsphase nicht mehr freuen und begeistern, kaum mehr ein feines Menü, ein Kinderlachen oder einen lauen
Sommerabend geniessen. Alle Aufmunterungsversuche scheinen an ihnen wirkungslos abzuprallen.

Der Austausch von Gefühlen und Dialogen, der üblicherweise eine Beziehung lebendig hält, läuft lediglich noch auf Sparflamme. Die dauerhaft gedrückte Stimmungslage sowie die Antriebs- und Interesselosigkeit von Menschen in einer Depressionsphase können die Angehörigen sehr belasten.

«Fachleute raten betreuenden Personen, frühzeitig für mentale Unterstützung durch Selbsthilfegruppen für Angehörige, psychologische Beratung und Begleitung zu sorgen. Zudem sollten sie sich regelmässige Auszeiten gönnen, um sich selbst immer wieder neu zu stärken.»
Adrian Zeller

Experten sprechen dabei von Selbstfürsorge, die für die eigene Gesunderhaltung wichtig ist. Es droht das Risiko von Erschöpfungsdepression, von Burn-out, chronischen Schlafstörungen und unter Umständen von Medikamentenabhängigkeit.