18. November 2021

Ich denke, also bin ich …

Ich denke, also bin ich ...
Lesezeit ca. 8 min

Wir denken immer. Manchmal vielleicht zu viel, manchmal zu wenig und vielleicht auch manchmal falsch.

Philosophische Gedanken

«Cogito, ergo sum» (ich denke, also bin ich). Dies ist wohl eine der berühmtesten Weisheiten zum Thema «Denken». Er stammt von Descartes, einem französischen Philosophen. Und Philosophen verbringen bekanntlich ihr Leben vor allem mit Denken. Doch auch wenn wir der Philosophie nicht unbedingt zugeneigt sind, denken wir.

Wir können gar nicht anders, als stets zu denken, es sei denn, wir wären bewusstlos. Ob wir es wollen oder nicht, wir denken einfach. Gedanken sind da, sie kommen und gehen, sie fliegen manchmal an uns vorbei, die einen etwas klarer, die anderen etwas diffuser. Es gibt Gedanken, die uns quälen, andere entzücken uns, wieder andere können uns auch beunruhigen. Und Gedanken lösen Gefühle aus. Angenehmere oder auch weniger angenehme. Ebenso umgekehrt. Gefühle können auch Gedanken auslösen.

«Es gibt nichts Wichtigeres auf der Welt, als die Menschen zum Nachdenken zu bringen», sagte Rousseau, während ein japanisches Sprichwort besagt, dass man bei allzu langem Nachdenken nicht auf den richtigen Gedanken komme. Was stimmt nun? Sollen wir (noch) mehr denken oder bisweilen etwas weniger? Wer weiss das schon. Tröstlich aber in Bezug auf die verflixte Frage nach dem Denken ist die Aussage von Cicero: «Liberae sunt nostrae cogitationes» (unsere Gedanken sind frei). Sagen dürfen wir bekanntlich niemals alles, denken hingegen schon!

Komplexe Gehirnleistung

Man sieht sie nicht und man hört sie auch nicht. Die Gedanken. Das heisst aber noch lange nicht, dass Gedanken nichts sind und nichts bewirken. «Die Wissenschaft hat festgestellt», erklärte dazu Wernher von Braun schon vor langer Zeit, «dass nichts spurlos verschwinden kann. Die Natur kennt keine Vernichtung, sie kennt nur die Verwandlung. Alles, was die Wissenschaft mich lehrte und noch lehrt, stärkt meinen Glauben an ein Fortdauern unserer geistigen Existenz über den Tod hinaus».

«Bei jedem Gedanken produziert das Hirn übrigens einen elektrischen Strom. Mithilfe eines Elektro-Enzephalogrammes (EEG) können diese Hirnströme gemessen werden.»
Albin Rohrer

Viele Wissenschaftler und auch Mediziner forschen auf diesem Gebiet, und sie sind immer wieder erstaunt darüber, wie unglaublich komplex unser Hirn funktioniert.

Grosse Denkleistungen

Viel Grosses, was der Mensch erschaffen hat, verdankt er seinen kognitiven Fähigkeiten. Ingenieure, Informatiker, Mediziner, Biologen, Astronomen, Chemiker oder Physiker haben Unglaubliches erdacht und danach erschaffen. Das unterscheidet den Menschen ja auch von den Tieren. Die heutige moderne Welt und die Wissenschaft legen denn auch sehr grossen Wert auf das Denken.

Doch denken ist nicht alles! Wir wissen es zwar, vergessen es aber hin und wieder:

«Unser Denken, also unser Verstand, ist begrenzt. Unser Verstand vermag nur einen Bruchteil der gesamten Wirklichkeit des Lebens zu erfassen. Unser Hirn ist zwar zu grossen Leistungen fähig, es hat aber auch seine Grenzen.»
Albin Rohrer

So können wir nicht alle Töne hören, unser Tonspektrum ist begrenzt. Hunde, Delphine oder Elefanten haben beispielsweise ein viel umfassenderes Hörvermögen. Wir können auch nicht alle Farben sehen und wir können letztlich weder das Leben noch die Welt mit unserem Verstand definitiv und endgültig begreifen und erklären. Das versuchen ja Philosophen bekanntlich seit Jahrhunderten erfolglos.

Verlassen wir uns ausschliesslich auf unseren Verstand, unterliegen wir möglicherweise einer Täuschung. «Der Verstand ist ein guter Diener, aber ein schlechter Herr», besagt ein Sprichwort. Was bedeutet das?

Intuition statt Verstand

Vor vielen Jahren hatte ich ein Erlebnis, welches ich nie mehr vergessen werde und welches mich nachhaltig geprägt hat. Es ging um die Frage, ob ich mich auf meinen Verstand (denken) oder auf meine Intuition (fühlen) verlassen sollte. Ich stand vor einer sehr schwierigen Entscheidung, eine Entscheidung, die mein Leben nachhaltig verändern würde. Dabei machte ich mir viele Gedanken. Und auch viele Gefühle waren vorhanden. Mein Kopf sagte «ja». Alles und jedes hatte ich zuvor durchdacht, mein Verstand sammelte Daten und Fakten und kam schliesslich zum Schluss, alles sei okay und ich könne diese Frage mit «ja» beantworten.

Gleichzeitig aber hatte ich ein ganz dumpfes Gefühl. Irgendetwas in mir wehrte sich dagegen und sagte «nein». Dieses Gefühl jedoch konnte ich nicht genau orten und auch nicht genau definieren. Offenbar war mein Verstand zu begrenzt, um diesem Gefühl wirklich auf die Spur zu kommen. Schliesslich ignorierte ich dieses Gefühl, hörte auf meinen Verstand und sagte «ja». Das schlechte Ge- fühl allerdings blieb …

Ein paar Monate später endete das Ganze in einem gewaltigen Desaster. Alles ging schief und ich musste mit Schrecken feststellen, dass mich mein Verstand beziehungsweise mein Denken, komplett in die Irre geführt haben. Hätte ich doch nur auf mein Gefühl (auf meine Intuition) gehört und «nein» gesagt. Dieses Erlebnis hat mich aber definitiv etwas gelehrt: Obschon ich weiss, dass ich nicht ganz der Dümmste bin und dass ich über einen zumindest durchschnittlich hohen Verstand verfüge, werde ich – falls ich wieder einmal vor einer solchen oder ähnlichen Frage stehen sollte und ein Kampf zwischen meinem Verstand und meinem Gefühl ausbricht – mich auf jeden Fall auf mein Gefühl verlassen, selbst wenn ich dieses Gefühl nicht erklären kann. Ich glaube fest daran, dass unsere Intuition oft mehr «weiss» als unser Verstand …

«Nebst dem Verstand und der Möglichkeit, über etwas nachzudenken, haben wir auch noch Gefühle und unsere Intuition – unsere Stimme aus dem Bauch. Diese sollte – trotz grosser Leistungen unseres Denkens – nicht vergessen werden.»
Albin Rohrer

Denken und fühlen in der Musik

Und da wäre noch etwas: Alle, die Musik machen, wissen das: Beim Musikmachen braucht es den Verstand. Notenlesen ist letztlich etwas Mathematisches (Tonhöhe, Vorzeichen, Rhythmus). Doch wer «nur» im richtigen Moment den richtigen Ton spielt, der hat noch nicht wirklich Musik gemacht. Das Wesentliche der Musik ist nämlich mit dem Verstand gar nicht erfassbar. Um das Wesentliche in der Musik zu begreifen und wiedergeben zu können, braucht es viel Gefühl. Wie schnell sollte ein Musikstück sein, wie laut soll es gespielt werden? Wo wird es intensiver, wo geht die Intensität zurück? Wo wird das Stück schneller? Wo wird es langsamer? All das kann in den Noten niemals ganz genau festgelegt werden, Musikalität ist letztlich immer eine Frage der Intuition, des Gefühls, und nicht des Verstandes.

Verstand oder Gefühle?

Mit dem Thema befasste sich übrigens auch Jane Austin in ihrem Roman «Verstand und Gefühl». Und spätestens seit dann weiss man es:

«Auch Gefühle können täuschen. Es gibt tatsächlich Situationen, in denen wir uns auf den Verstand verlassen sollten. Die Frage ist jetzt nur noch, in welchen Situationen ich mich auf den Verstand und in welchen Situationen ich mich auf meine Gefühle verlasse.»
Albin Rohrer

Sollte ich zum Beispiel irgendwann in der Nacht bei Regen auf einer einsamen Landstrasse mit dem Auto stecken bleiben, weil der Benzintank leer ist, werden mir meine Gefühle wahrscheinlich wenig helfen. Dann müsste ich einfach gut überlegen, wie ich jetzt Benzin beschaffen könnte. Wenn es aber darum ginge, beispielsweise eine neue Wohnung zu beziehen, würde ich mich auf jeden Fall nicht auf meinen Verstand verlassen. Diese Entscheidung würde ich ganz sicher gefühlsmässig treffen.

Es gibt übrigens Menschen, die sich vorwiegend auf den Verstand verlassen, andere handeln eher gefühlsmässig. Und so hätte Descartes nicht nur «ich denke, also bin ich» sagen können, «ich fühle, also bin ich» wäre genau so richtig gewesen.