13. Mai 2022

Irren ist menschlich

Irren ist menschlich
Lesezeit ca. 7 min

«Errare humanum est» (irren ist menschlich), sagten schon die Römer. Wir alle machen Fehler und vieles ist unvollkommen. Ist das schlimm?

Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Wir alle machen hin und wieder Fehler. Kleinere, mittlere und grössere Fehler. Journalistinnen und Journalisten machen Fehler (dann ärgert sich die Leserschaft), Fussballtorhüter*innen machen Fehler (dann geht das Spiel womöglich verloren), Manager*innen machen Fehler (das kostet unter Umständen Arbeitsplätze), das Steueramt macht Fehler (dann ist die Rechnung zu hoch oder zu niedrig), Politiker*innen machen Fehler (das bringt Gesellschaften durcheinander), Richter*innen machen Fehler (dann wird beispielsweise ein Unschuldiger verurteilt), und sogar Ärztinnen und Ärzte machen gelegentlich Fehler (das kann im schlimmsten Fall ein Leben kosten). Kurz und gut: Unsere Welt ist voller Fehler und Irrtümer.

Was ist ein Fehler?

Ob es eine offizielle Definition des Begriffes «Fehler» gibt, entzieht sich meiner Kenntnis. Im Internet ist dazu Folgendes zu finden: «Ein Fehler ist eine Abweichung von einem optimalen oder normierten Zustand oder Verfahren. Bei Produkten ist die Abwesenheit von Fehlern ein Qualitätsmerkmal.» Doch da stellt sich die Frage, was unter «optimal» zu verstehen ist. Was ist ein optimales Auto? Ein optimales Buch? Eine optimale Brücke? Ein optimales Seminar oder eine optimale Therapie.

In der Mathematik ist alles verhält mässig klar: Drei plus drei ergibt sechs. Also nur ein Resultat ist richtig und entsprechend optimal. Doch in der Medizin, in der Psychologie, in der Kunst, ja sogar in der Technik oder in der Juristerei ist schon nicht mehr immer ganz so klar, was unter dem Begriff «optimal» verstanden werden soll oder kann. Nebst schwarz und weiss gibt es nämlich oft auch eine mehr oder weniger umfangreiche Grauzone. Diese wiederum bildet, wie die Praxis immer wieder zeigt, ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotenzial. Was wäre, wenn es keine Fehler gäbe?

Lapsus oder Desaster

Natürlich kommt es immer auf die Situation an. Würde mir ein Arzt das gesunde linke Bein statt des kranken rechten Beins amputieren, würde ich ihm diesen Fehler nur schwerlich verzeihen können. Würde ich zu Unrecht 20 Jahre ins Gefängnis gesteckt werden, weil sich die Justiz geirrt hat, dann könnte ich diesen Fehler wohl auch kaum akzeptieren. Hingegen kann ich gut damit leben, wenn mir eine Servicefachperson anstelle des bestellten Apfelsaftes eine Limonade auf den Tisch stellt.

Kleinere Fehler, in der Umgangssprache oft auch «Lapsus» genannt, passieren täglich tausendfach und sind meist eher amüsant als störend. Problematischer wird die Sache dann schon bei grösseren Fehlern oder, was noch schlimmer ist, bei Fehlerketten. Machen beispielsweise die Flugüberwachung, das Bodenpersonal und der Pilot gleichzeitig mehrere Fehler, so kann die Landung eines Flugzeuges zum absoluten Desaster werden.

Unfehlbarkeit

«Wer sich nie irrt, wer keinen Fehler begeht, wer frei ist von Fehleinschätzungen, wer keine irrtümlichen Entscheidungen trifft und keine fehlerhaften Handlungen ausführt, der wäre unfehlbar. Nach menschlichem Ermessen ist das nicht möglich.»˚
Albin Rohrer

Allerdings spielt die Unfehlbarkeit in einzelnen Religionen, Konfessionen und auch Ideologien eine wichtige Rolle. Die Grundlage theologisch begründeter Unfehlbarkeit ist in diesem Zusammenhang aber nicht der Mensch, sondern Gott, der einem Menschen die Unfehlbarkeit aus bestimmten Gründen verleiht. Es gibt die Meinung, dass ein allmächtiger Gott die Unfehlbarkeit eines Menschen bewirken könne. Diese Meinung wird aber bekanntlich nicht von allen Menschen geteilt.

Gemäss römisch-katholischem Glauben hat Christus seiner Kirche zugesagt, der Heilige Geist werde sie in der Wahrheit lehren und erhalten, und in ihr das Bischofs- und Petrusamt für den Dienst der Einheit in der Wahrheit eingestiftet. Daher gelten bestimmte Entscheidungen des Papstes als Nachfolger des Apostels Petrus als unfehlbar. Im Katechismus der Katholischen Kirche von 1992, Paragraph 889, steht diesbezüglich folgender Wortlaut: «Um die Kirche in der Reinheit des von den Aposteln überlieferten Glaubens zu erhalten, wollte Christus, der ja die Wahrheit ist, seine Kirche an seiner eigenen Unfehlbarkeit teilhaben lassen.»

Es verwundert kaum, dass die Unfehlbarkeit auch innerhalb der Kirche zu einem kontroversen Meinungsaustausch führte. Viele Menschen zweifeln wohl zu Recht an der Unfehlbarkeit der kirchlichen Obrigkeit.

Irrtum

«Irren ist menschlich», sagt ein Sprichwort, «im Irrtum verharren ist teuflisch», wurde diesem Sprichwort später beigefügt. Wie wahr das ist! Der Irrtum bezeichnet im engeren Sinne eine falsche Annahme, eine falsche Behauptung, eine falsche Meinung oder auch einen falschen Glauben, wobei die behauptende, die meinende oder die glaubende Person jeweils von der Wahrheit ihrer Aussage überzeugt ist. Das ist ein wesentlicher Unterschied zur Lüge.

«Wer irrt, der verfälscht nicht bewusst, absichtlich oder gar böswillig.»
Albin Rohrer

Wenn wir in unseren Geschichtsbüchern blättern oder aufmerksam zuhören, was Menschen hier und dort erzählen, so merken wir bald, dass es in unserer Welt von Irrtümern geradezu wimmelt. Hier ein paar klassische Beispiele: Schon oft wurde behauptet, die Chinesische Mauer sei vom Mond aus sichtbar. Das stimmt nicht. Die Mauer ist zwar lang, aber viel zu schmal, um sie aus dieser Entfernung (356 000 Kilometer) mit blossem Auge sehen zu können. Oder die Behauptung, der Satz über die rechtwinkligen Dreiecke stamme von Pythagoras. Dieser berühmte Lehrsatz wurde zwar von Pythagoras von Samos (570 v. Chr.) ausgiebig genutzt, doch er hat ihn nicht selbst entdeckt. Schon tausend Jahre früher kannten die Babylonier diesen Zusammenhang.

Und was ist die Moral dieser Geschichten: Etwas Vorsicht bei Behauptungen könnte ab und zu nicht schaden. Das zeigte sich auch während der Pandemie. Was wurde da doch alles immer wieder behauptet bezüglich Virus, Impfungen, Ansteckungen, Todesfällen und Statistiken? Und was davon war denn wirklich wahr?

Vollkommenheit

Mit dem Thema «Vollkommenheit», das den Themen Irrtum, Fehlerhaftigkeit und Unfehlbarkeit sehr nahesteht, haben sich im Verlaufe der Geschichte weniger die Wissenschaftler als vielmehr die Philosophen beschäftigt.

Doch was heisst Vollkommenheit? Der Begriff hat eine Mehrfachbedeutung. Einerseits versteht man darunter eine Makellosigkeit, also ein von Beschädigungen freier Zustand. Andererseits bedeutet er auch das vollendete Ergebnis eines Vorganges. Etwas, das unübertrefflich, ideal, ohne Fehl und Tadel «perfekt» ist.

Zurück zu den Philosophen: «Macht können wir durch Wissen erlangen», sagte Tagore, «aber zur Vollkommenheit gelangen wir nur durch die Liebe.» Einen weisen Rat bezüglich Vollkommenheit äusserte auch Goethe:

«Derjenige, der sich mit Einsicht für beschränkt erklärt, ist der Vollkommenheit am nächsten.»
Johann Wolfgang von Goethe
Deutscher Dichter (1749–1832)

Vor der Vollkommenheit gar abgeraten hat Pearl S. Buck: «Das Streben nach Vollkommenheit macht Menschen vollkommen unerträglich.» Ganz anders sah es Fjodor Dostojewski. In seinem Werk «Der Idiot» schrieb er: «Um Vollkommenheit zu erreichen, muss man erst vieles nicht begriffen haben! Begreifen wir zu schnell, so begreifen wir wahrscheinlich nicht gründlich.»

Jetzt bleibt noch die Frage, was wir bezüglich Fehlerhaftigkeit, Irrtum und Vollkommenheit wirklich anstreben wollen. Was mich betrifft: Vollkommen zu sein wäre bestimmt nicht schlecht, aber hin und wieder ein paar Fehler machen zu dürfen, finde ich doch ganz angenehm.