14. Juni 2019

Jugendliche Ausreisser

Jugendliche Ausreisser
Lesezeit ca. 8 min

Eines Morgens haute die 15-jährige Nicole ab – mit 90 Franken im Portemonnaie, einigen Schminkutensilien und ihrem kleinen
Plüschhasen im Rucksack. Drei Tage lang fand sie Unterschlupf bei einer Schulfreundin, deren Eltern in den Ferien waren. Als
diese zurückkehrten, versuchte Nicole im Freien zu übernachten.

Unterschiedliche Blickwinkel

Rückblickend erzählt sie: «Ich habe kein Auge zugetan, fürchtete mich schrecklich und habe stundenlang geweint.» Schliesslich fuhr sie mit dem Taxi zur jüngeren Schwester ihrer Mutter. Sie weigerte sich standhaft, nach Hause zu gehen. «Als mir meine Schwester telefonisch mitteilte, dass Nicole bei ihr sei, habe ich vor Erleichterung nur noch weinen können», erinnert sich die alleinerziehende Mutter. Drei Tage zuvor hatte sie in panischer Angst bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Nach vierzehn Tagen kehrte Nicole zurück. Was war passiert?

Dem Ausreissen vorausgegangen waren von einem Tag auf den anderen tägliches Motzen, Wutausbrüche, Türenknallen, beleidigter Rückzug und Gesprächsverweigerung. Manchmal glaubte die Mutter, vor Wut verrückt zu werden, dann wiederum war sie einfach nur noch traurig, enttäuscht und fühlte sich hilflos. Natürlich wusste sie, dass die Pubertät schwierige Jahre bringen würde; aber derart nervenaufreibend hatte sie es sich nicht vorgestellt. Es ging alles rasend schnell: Innerhalb von wenigen Wochen wandelte sich ihre Tochter vom süssen und umgänglichen Mädchen in eine unflätige und regelbrechende junge Frau. Die Mutter suchte nach Erklärungen, dann meldeten sich Versagensgefühle und schliesslich keimte der zermürbende Verdacht auf, in den vergangenen 15 Jahren erzieherisch alles falsch gemacht zu haben. Sie hatte den Eindruck, dass sie sich Mühe gab, ihre Tochter zu verstehen und räumte ihr ihrer Meinung nach grosse Freiheiten ein.

Nicole sieht es ganz anders:

«Ich fühlte mich total unverstanden, bevormundet und eingesperrt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mich meine Mutter daran hindern wollte, Spass zu haben und eigenständig zu werden.»
Nicole

In den letzten Sommerferien eskalierte der Streit: Als Nicole sich trotz Hausarrest – verhängt wegen mehrmaligem Zuspätkommen nach dem Ausgang – an eine Party schlich, empfing sie ihre Mutter mit einer Ohrfeige.

4000 jugendliche Ausreisser

In einer Untersuchung des Pädagogischen Instituts der Universität Zürich wurde festgehalten, dass in der Schweiz pro Jahr zirka 4000 Jugendliche – etwa gleich viele Mädchen wie Jungen – davonlaufen. Drei Viertel waren 14 bis 18 Jahre alt. Die meisten Ausreisser entfliehen im Sommer, kurz vor Ferienende. Laut dieser Studie kehrten die Jugendlichen im Durchschnitt nach etwa zwei Wochen zurück.

«Fachleute sind sich einig: Erfolgt die Rückkehr innerhalb weniger Stunden oder Tage, sei es für Eltern in jedem Fall wichtig, den Ursachen für das Weglaufen auf den Grund zu gehen und ein klärendes Gespräch zu suchen.»
Elisabeth Bürkler

Weglaufen und Zurückkommen, um dann zur Tagesordnung zurückzukehren, lösen keinen Konflikt. Zudem liegen die Wurzeln oft in einem zu nachlässigen Erziehungsstil.

Es ist völlig normal, dass pubertierende Jugendliche oft Extremverhalten zeigen und damit die Eltern auf die Probe stellen. Sind diese nachsichtig und betteln, etwa mit Geschenken, um die Gunst des Kindes, verhalten sie sich unklar und lassen Führung und Grenzen vermissen. Die Folgen dieses Verhaltens können Unklarheit und Verlorenheit sein – nicht nur bei den Eltern, sondern auch bei den Jugendlichen. Dies wiederum kann beim Jugendlichen Aggression auslösen. Als Reaktion darauf kippen Eltern häufig ins andere Extrem und ein Teufelskreis entsteht. Die Situation kann so für den Jugendlichen unerträglich werden und er hält es zu Hause nicht mehr aus.

Auslöser für die Eskalation

Die häufigsten Auslöser zwischen Eltern und Jugendlichen sind enttäuschende Schulleistungen, der Streit um die Höhe des Taschengeldes, Nörgelei wegen der eigenwilligen Kleidung, bei Mädchen das Schminken, Meinungsverschiedenheiten über die Rückkehr nach dem Ausgang, exzessiver Computer- oder Handygebrauch. Auch Mobbing in der Schule oder über das Handy kann ein Auslöser sein.

Seltener sprechen Untersuchungen von einer anderen Form des Ausreissens: Wenn über Nacht ein «guter Sohn» zum Ausreisser wird, kann es sein, dass die fast obligat zur Schau getragene «völlige Überraschung» der Eltern durchaus einmal berechtigt ist. Amerikanischen soziologischen Untersuchungen zufolge fällt nämlich seit geraumer Zeit ein Durchbrenner-Typ auf, den nicht so sehr Fluchtgrund («running from») als Wunschziel («running to») treibt: Bei ungetrübtem Verhältnis zum Elternhaus bricht das Kind gleichwohl aus und realisiert – wie eine Untersuchung der Berkeley-Universität formuliert – «seine Sehnsucht nach Unabhängigkeit und seinen Willen, es allein zu schaffen». Oder anders gesagt, wenn die Familienverhältnisse zu «schön» sind, um sich von den Eltern abnabeln zu können, kann sich ein Jugendlicher sehr wohl dieser Form bedienen.

Mögliches Indiz für Gewalt und Missbrauch

Ein alarmierendes Warnsignal an die Aussenwelt ist dasjenige Ausreissen, das nicht auf eine pubertäre und spontane Reaktion zurückgeht. Besonders bei jüngeren Kindern ist das Weglaufen ein wichtiges Indiz für schlimme Zustände im Elternhaus. Dazu gehören Verwahrlosung, Gewalt, Alkohol, Drogen oder (sexueller) Missbrauch. Für Eltern ist es im Allgemeinen bedrückend, wenn ihr Kind seinen Kummer durch Weglaufen zum Ausdruck bringt. Sie fühlen sich schuldig, beschämt und wie gelähmt. Spätestens mit der Flucht ihres Kindes müssen sie feststellen, dass es offensichtlich nicht genug Vertrauen zu ihnen hat. Wäre es anders, wäre es nicht weg-, sondern hingelaufen, nämlich zu ihnen.

Wie weiter nach der Rückkehr?

Wie erwähnt kehren Jugendliche, die von ihrem Elternhaus Reissaus genommen haben, in den meisten Fällen bald wieder zurück; so die Ergebnisse einer amerikanischen Studie. Hauptgründe für die Rückkehr sind der Wunsch, Freundschaften mit Gleichaltrigen aufrecht zu erhalten, die Schule weiter zu besuchen und auch wieder bei ihren Eltern zu sein beziehungsweise deren Unterstützung zu erhalten. Häufig gelangen sie auch zur Erkenntnis, dass die grosse Freiheit draussen ebenfalls nach Regeln funktioniert und nicht nur Rosinen bereithält. Die meisten Jugendlichen sind zwischen 14 und 18 Jahre alt, das ist der Zeitraum des Abnabelns von den Eltern.

Kehrt Ihr Kind nach seiner «Flucht» nach Hause zurück, empfangen Sie es weder mit einer Strafpredigt noch überschütten Sie es mit Vorwürfen. Triumphieren Sie aber auch nicht, dass es reumütig wieder nach Hause gekommen ist.

«Umarmen Sie Ihr Kind, sagen Sie ihm, dass Sie froh sind, dass es wieder da ist. Was es jetzt am dringlichsten braucht, sind Verständnis und Zuneigung seiner Eltern! Es ist aber wichtig, dass man dem Kind auch sagt, dass man sich grosse Sorgen gemacht hat.»
Elisabeth Bürkler

Und man sollte unbedingt über den Vorfall reden; alleine durch das «Zurückkommen» ist der Konflikt noch nicht gelöst. Es geht darum, gemeinsam herauszufinden, was die Gründe für das Weglaufen waren. Was ist falsch gelaufen? Was können die Eltern gemeinsam mit dem Kind in Zukunft anders machen?

Pubertät ist schwierig

Wichtig für alle Eltern ist zu wissen, dass elterliche Ohnmachtsgefühle während der Pubertät ihrer Kinder völlig normal sind. Gemäss Studien empfinden mehr als die Hälfte aller Eltern die Erziehung als «schwierig» bis «sehr schwierig». Eltern müssen nicht alles jederzeit im Griff haben und regeln können.

«Streit, Chaos, Abgrenzung und Entfremdung gehören in der Ablösungszeit zum Familienalltag, bis die Jugendlichen ihre neue Rolle als Erwachsene gefunden haben.»
Elisabeth Bürkler

Externe Unterstützung

Häufig ist es ratsam, sich Hilfe von aussen zu holen. Es gibt verschiedene Einrichtungen, die Eltern oder Jugendlichen helfen können: Erziehungsberatungsstellen, das Jugendamt, eine Psychologin oder auch ein Schulpsychologe sind derartige Anlaufstellen. Hier wird sowohl geholfen, wenn die familiäre Situation ein Kind zum Weglaufen veranlasste, als auch wenn Gründe ausserhalb der Familie vorliegen.