«Ich zünde keine Zigarette mehr an»
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Noch einmal einen Versuch starten: Das hat sich Kathrin Christen gesagt – in mehr als vierzig Jahren über zwanzig Mal. Seit sechs Jahren ist sie clean. Doch die Versuchung klopft regelmässig an.

Die erste Zigarette

In Dänemark hat es begonnen. Kathrin Christen ist einsam und traurig, fühlt sich verlassen. Sie sehnt sich nach dem Mann, in den sie sich verliebt hat. Ihre Eltern haben sie in den Norden geschickt – um zu testen, ob die Liebe hält. Die damals knapp Zwanzigjährige zündet sich die erste Zigarette an. Sie tröstet. Sie dämpft schwelende Gefühle.

Diese Erfahrung brennt sich in ihr Unterbewusstsein ein. Kathrin Christen aus Brügg BE wird zur Raucherin: In Extremzeiten pafft sie vier Schachteln pro Tag. Über mehr als vierzig Jahre lang. «Die Zigarette», sagt sie, «war mein Halt».

«Sie gibt ihr Halt im Auf und Ab des Lebens: bei Stress im Job, wenn Sorgen als alleinerziehende Mutter von drei Töchtern drücken, wenn der Alltag piesackt. Um das durchzustehen, den Kopf über Wasser zu halten, braucht, ja benötigt sie das beruhigende Ritual des Rauchens.»
Marcel Friedli

Auch ihr Onkel kann nichts ausrichten. Ein starker Raucher, der kaum noch Luft bekommt und ihr ans Herz legt: Hör auf! «Das liess ich nicht an mich heran», sagt Kathrin Christen. Auch die morbide Warnung auf den Päckchen beeindruckt sie nicht: «Rauchen tötet? Ach was – leben tötet: Am Schluss kommt der Tod ja sowieso.»

Die letzte Zigarette

Aber da ist noch sie, die leise Stimme, die sie ermuntert, Schluss mit den Glimmstengeln zu machen. Immer wieder. «Mehr als zwanzig Mal habe ich das versucht.» Mehrmals hält sie drei Monate durch. «Aber dann kam der Gedanke: Mal wieder nur eine rauchen und es so richtig geniessen. Doch das funktionierte nie. Wieder hatte mich die Sucht im Würgegriff.»

Bis sich Kathrin Christen sagt: Ich starte nochmals einen Versuch. «Da ich im Alleingang bislang gescheitert war, besuchte ich bei der Berner Gesundheit einen Kurs. Die Kraft der Gruppe half mir, dieser Sucht endgültig Adieu zu sagen.» Nicht nur der Kurs und die Gruppe, sondern weitere Faktoren tragen zum Entscheid bei, der diesmal ein Entschluss ist. Eine ihrer Töchter hat eine seltene Krankheit und macht eine Kur in einer alternativen Klinik.

«Eine sehr teure Kur, die sie selbst bezahlen musste. Mir wurde dieser Widerspruch bewusst: Meine Tochter gibt viel Geld aus, um gesund zu werden. Und ich investiere es in teure Zigaretten und nehme in Kauf, meine Gesundheit zu ruinieren.»
Kathrin Christen

Ein weiterer Faktor: Ihre Rente ist niedrig. «Das Geld, das ich nun nicht mehr fürs Rauchen ausgebe, ist zum Leben sehr willkommen.» All diese Faktoren lassen den Entscheid zum Entschluss reifen – Schluss mit Rauchen. An ihrem letzten Arbeitstag zündet sie die letzte Zigarette an.

Vor Zorn rauchen

Seither klopfen sie immer wieder an, die Versuchungen: im Stau, der das Konzert, auf das sie sich so gefreut hat, zunichte machen könnte. Oder wenn es im Beziehungsgefüge knarzt und ächzt. Im Frust sagt Kathrin Christen dann: «Jetzt rauche ich eine.» Doch sie weiss: «Eine Zigarette, und ich bin wieder in der Sucht gefangen. Eine einzige Zigarette reicht, und es geht wieder los. Aus diesem Wissen heraus lasse ich das bleiben.»

Sie raucht nur noch vor Zorn, im übertragenen Sinne: Es bleibt bei den Worten, denen sie keine Taten folgen lässt. Denn dieser Satz ist stärker: «Ich zünde die nächste Zigarette nicht an.» Daraus ist geworden:

«Ich zünde keine Zigarette mehr an.»
Kathrin Christen

Diesem Satz bleibt sie treu, wie sie versichert. «Ich habe immer mal wieder Gluscht», gibt sie zu. «Das wird, wenn man jahrzehntelang geraucht hat, wohl immer so sein. Irgendwo habe ich noch Tabak. Doch ich will und werde dieser Versuchung stets von Neuem widerstehen.» Ihre Willensstärke ist belohnt worden: Ihre Lunge ist gesund, wie eine Untersuchung ergeben hat.

Wie ein Antidepressivum

Dies tröstet über Nebenwirkungen hinweg: Seit Kathrin Christen nicht mehr pafft, ist sie leichter reizbar. «Rauchen», sagt sie, «war für mich ein Antidepressivum. Es wob um alles einen Schleier: dämpfte die Emotionen, Eindrücke, Erfahrungen. Rauchen liess alles erträglicher werden.»

Eine weitere für sie unangenehme Begleiterscheinung: Seit sie keine Rauchwölkchen mehr in den Himmel bläst, hat Kathrin Christen zehn Kilogramm zugelegt. «Das nehme ich in Kauf. Dieser Preis ist es mir wert, denn ich habe eine Sucht loswerden können, die mich eingeengt hat.»

Zu einer Art Ersatzsucht ist das Stricken geworden: Überall, auch auf Reisen im Wohnmobil, ist die Lismete dabei. «So sind meine Hände beschäftigt: Ich weiss, was ich mit ihnen machen soll.» Der erfreuliche Nebeneffekt: Sie verschenkt Socken, Mützen, Pulswärmer und Baby- decken. «Die stinken nun nicht mehr nach Rauch.» Und Kathrin Christen bereitet so vielen bedürftigen Menschen Freude.

 

Bild von Kathrin Christen
Kathrin Christen und Martin Keller

Übungen in kribbeligen Momenten

Regenschirm

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Die Hände an die Seiten des Oberkörpers legen. Spüren, wie sich der Körper beim Atmen wie ein Regenschirm bewegt.
Farbe

Farbe

Die Augen schliessen. Sich eine Farbe vorstellen, die beruhigt.
Massage

Massage

Die Hände schütteln. An jedem Finger ziehen. Die Handflächen massieren. Kopfhaut streicheln.
Hampelmann

Hampelmann

Arme und Beine lockern.