17. August 2021

Körpergedächtnis: Nach innen hören

Körpergedächtnis: Nach innen hören
Lesezeit ca. 8 min

Der Körper erinnert sich, auch wenn der Verstand es vergessen hat.

Nicht nur das Gehirn speichert Erinnerungen, sondern auch unser Körper. Das Körpergedächtnis ist unserem Bewusstsein meist nicht zugänglich und seine Sprache ist nicht in Worte zu fassen. Im Zeitalter der Kommunikation vergessen wir leicht, dass nicht nur das existiert, was wir mit Worten benennen können. Die Welt und das Leben sind weitaus komplexer. Der Körper jedenfalls speichert Erinnerungen, wie wir heute wissen und hat auch seine ganz eigene Sprache. Diese zu verstehen ist allerdings schwerer als das gesprochene Wort, obwohl es auch da nur so von Missverständnissen wimmelt.

Verbunden: Körper und Geist

Die Verhaltensforscher, die Neurologen, Psychiater und Psychologen haben in den letzten Jahren viele neue Zusammenhänge zwischen Körper und Geist herausfinden können. Das ist auch dringend notwendig. Noch immer versuchen somatische Ärzte den kranken Körper wie eine defekte Maschine zu reparieren.

Die Psychologen und Psychiater hingegen konzentrieren sich auf das Gespräch, auf Worte und deren Bedeutung, ganz so, als ob der Patient als Kopf und ohne Körper in die Therapiestunde gekommen wäre. Körper und Geist sind untrennbar miteinander verbunden. Nicht nur, dass auch das Gehirn ein Teil des Körpers ist, sondern auch, weil die verschiedenen Körperteile ganz bestimmte Funktionen haben, die alle zusammen einen gesunden Menschen ausmachen. Der menschliche Körper speichert Erfahrungen wie Düfte, Bewegungen oder ungute Begegnungen, ohne dass der Verstand etwas davon ahnt.

Prägende Kindheit

Niemand von uns erinnert sich an seine eigene Lebenszeit als Säugling. So weit zurückdenken können wir schon deshalb nicht, weil wir als Winzlinge geboren werden und die Wörter, mit denen wir Erinnerungen im Gedächtnis speichern, erst lernen müssen. Doch so ganz verloren sind die ersten Lebensjahre trotzdem nicht, im Gegenteil. Heute weiss man, dass gerade die ersten Lebensjahre prägend sind. Was wir da erlebten und körperlich wahrnahmen, beeinflusst unser Verhalten als Erwachsene ganz wesentlich.

Körpergedächtnis: Nach innen hören

Als Kleinkind lernen wir, mit anderen Menschen Beziehungen einzugehen und soziale Beziehungen sind nun mal nicht gerade unwesentlich für ein erfülltes, glückliches Leben. Wir nehmen liebevolle Berührungen unserer ersten Bezugspersonen mit den Sinnesorganen unserer Haut als angenehm wahr und merken uns das. Schreit das Kind und ist nicht zu beruhigen, werden die überforderten Eltern vielleicht etwas grob und packen fester zu. Das macht dem kleinen Menschenkind Angst, und auch das merkt es sich. Irgendwann nach vielen Jahren fragt es sich vielleicht, weshalb es nicht leicht Kontakt zu anderen Menschen knüpfen kann. Weshalb es scheu und ängstlich wurde und sich nicht gern von anderen Menschen berühren lässt.

Mithilfe des Verstandes und der Sprache ist dieser Ursache nicht beizukommen, weil das Kind dafür noch keine Worte kannte. Der Körper lernt durch Erfahrungen und die dabei erlebten Emotionen vergisst der Mensch nicht. Sie sind im Körpergedächtnis gespeichert.

Der Körper als Geschichtenerzähler

Die Sprache des Körpers ist schwierig zu verstehen. Das ist schade. Wenn Psychologen und Psychiater vom Unbewussten reden, so meinen sie genau genommen den Körper und sein Gedächtnis. Und gerade dann, wenn es Schwierigkeiten im Leben eines Menschen gibt, wird versucht, deren Ursachen zu finden. Man versucht im Unbewussten zu stochern und Erinnerungen zu beleben, um die Probleme besser lösen zu können. Denn wie sollen wir Lebenskrisen meistern, wenn wir dafür keine Worte finden und mit niemandem darüber reden können? Wie können wir unangenehme Gefühle meistern und ohne Worte verarbeiten?

Die Psychoanalyse versucht deshalb in die Tiefe zu gehen und der Hypnotiseur den denkenden Verstand auszuschalten. Dabei wird versucht, das Unbewusste heraufzuholen, bewusst zu machen, damit darüber geredet und reflektiert werden kann. Ohne Worte ist es schwierig, ein einmal erlerntes Verhaltensmuster zu ändern.

Nehmen wir als Beispiel die Angst vor Berührungen. Kein Problem, wenn ich fremden Menschen nicht gerne nahekomme, aber was, wenn ich mich vor liebevoller Nähe fürchte? Vielleicht so sehr fürchte, dass ich jeden näheren Kontakt mit anderen Menschen meide, mir aber gleichzeitig sehnlichst Zärtlichkeit wünsche. Sind die Probleme nicht besonders schwerwiegend, gehe ich dem nicht auf den Grund. Ich bin, wie ich bin. Ich bin scheu und für eine Familie nicht geeignet. Ein Einzelgänger bin ich und brauche niemanden. Aber tief in jedem von uns brodeln Bedürfnisse nach Nähe und Geborgenheit. Solange diese erfolgreich verdrängt werden können, geht das Leben von aussen gesehen ruhig seinen Gang, aber erfüllt und glücklich wird es dadurch nicht. Der Körper erinnert sich, Berührungen sind grob und schmerzhaft. Der Körper tut alles dafür, dieser Erfahrung aus dem Weg zu gehen. Und weil die Ursache dieses Verhaltens unbewusst ist, können wir sie nicht in einer Gesprächstherapie bearbeiten oder uns mithilfe des Verstandes selbst helfen.

Trauma, Totstellreflex und Depression

Besonders genau wurde das Körpergedächtnis an Menschen mit traumatischen Erfahrungen in der frühen Kindheit erforscht. Menschen verhalten sich in gefährlichen Situationen ganz ähnlich wie Tiere. Sie laufen weg oder wehren sich. Wird ein Kind körperlich misshandelt, kann es sich gegen den erwachsenen Angreifer weder wehren noch wegrennen. Dann bleibt dem Kind nur noch der Totstellreflex. Das Kind stellt unbewusst und automatisch sein gesamtes Wahrnehmungs- und Gefühlssystem aus. In der Fachsprache wird dies Dissoziation genannt.

Nichts fühlen hilft im Moment unerträgliches Leid zu überstehen. So weit eine gute Sache. Nur leider haben wir ein Körpergedächtnis und dieses erinnert sich auch viele Jahre später noch ganz genau an die Situation. Kommt ein solches Kind im Erwachsenenleben in eine vermeintlich schwierige Situation, schaltet sich das System Gefühle einfach aus. Traumatisierte Menschen wissen Körpergefühle nicht wahrzunehmen, zu interpretieren und Risiken richtig einzuschätzen. Sie stellen sich tot. Statt auftauchende Schwierigkeiten zu lösen, verharren sie gefühllos an Ort und Stelle. Das wird Depression genannt. Unfähig etwas zu bewegen, starr vor Schreck, gelähmt vor Angst und in der festen Überzeugung, nichts dagegen unternehmen zu können. Hilflos ausgeliefert wie damals als Kind. Gesunde Menschen nehmen ihren Körper wahr und handeln intuitiv nach dem Bauchgefühl. Dadurch ändern sich die schweren Gefühle mit der Zeit.

Körpergedächtnis: Nach innen hören

Körperorientierte Therapien

Hapert es mit der Verarbeitung von Krisen, ist die gängigste Therapieform das Gespräch. Nur wie soll über etwas gesprochen werden, an das sich der Mensch nicht erinnert? Manchmal tauchen vor dem inneren Auge ungewollt verschwommene Bilder auf und der Betroffene fühlt die Angst oder Trauer ganz so, als ob er wieder das Kind von damals wäre. Das wird Flashback genannt. Ein Auslöser, den Fachleute Trigger nennen, hat dieses unbewusste Erinnern aktiviert und Gefühle, die nichts mit dem Hier und Jetzt zu tun haben, hervorgerufen. Einleuchtend, dass Gespräche darüber und die Suche nach Lösungen schwierig sind. Also suchten Experten nach geeigneten Körpertherapien.

In einem ersten Schritt lernen die Betroffenen, ihren Körper wieder wahrzunehmen. Sich nicht mehr als Verstand ohne Körper zu empfinden, sondern Schritt für Schritt zu spüren und das Bauchgefühl zu entdecken, die Enge in der Brust und die angespannte Körperhaltung. Das ist wie eine neue Sprache zu lernen. Viele dieser Empfindungen sind nicht gerade angenehm, anstrengend und aufwühlend. Der Betroffene muss lernen, sich wieder zu beruhigen und dem Körper zeigen, dass es angenehme Gefühle gibt.

«Die gute Nachricht, der Körper erinnert sich nicht nur, sondern er kann auch Neues lernen.»
Judith Dominguez