Kreativ sein heisst bei Weitem nicht nur, basteln, malen oder stricken zu können. Es heisst vor allem, zu wissen, wie man ein Problem löst.
Was würden Sie tun, wenn Sie in einer bitterkalten Winternacht mit Ihrem Pferd und Ihrem Kind unterwegs wären, zu wenig zu essen dabeihätten, sich im Wald verirrten und dann Gefahr liefen, dass Ihr Kind erfriert?
In dieser Situation befand sich einmal ein russischer Bauer in der Taiga. Er wusste: «Wenn ich jetzt keine geniale Idee habe, wird mir mein Kind in meinen eigenen Armen erfrieren.» Auf fremde Hilfe konnte er nicht hoffen. Und so entschied er sich für eine zwar etwas unkonventionelle, aber letztlich wirkungsvolle Lösung: Er tötete das Pferd, schnitt ihm den Bauch auf und legte das schon halb erfrorene Kind in den warmen Bauch des toten Pferdes. Natürlich zahlte er dafür einen hohen Preis (sein Pferd), doch das Kind war gerettet – und das Problem damit gelöst.
Es gibt Menschen, die nähen sich selbst Kleider, basteln wundervolle Tischdekorationen, malen farbige Bilder, schreiben Gedichte, musizieren oder legen einen prachtvollen Garten an. Man sagt dann, diese Menschen seien «kreativ». Natürlich stimmt das, auch das ist Kreativität.
Doch ein ganz wesentlicher Teil der Kreativität gilt einem anderen Gebiet: Wer wirklich kreativ ist, der verfügt über die Fähigkeit, Probleme – welcher Art auch immer – zu lösen, um sich damit aus einer misslichen Situation zu befreien und im Leben irgendwie weiterzukommen. So wie eben der eingangs erwähnte Bauer in der Taiga. Das Wort «kreativ» stammt übrigens aus dem Lateinischen «creare» (erschaffen, generieren, begründen), und das kann ja irgendetwas sein. Das heisst, kreativ können wir in der Küche, im Wohnzimmer, im Hobbyraum, im Garten, aber auch bei der Arbeit, in einer Beziehung und überhaupt in allen Bereichen des Lebens sein.
Wir alle stehen immer wieder vor irgendwelchen Problemen. Ob im Beruf, in der Beziehung, in der Familie oder in der Freizeit: Probleme sind Realität. Die Frage lautet deshalb nicht, ob wir Probleme haben oder nicht; die Frage lautet vielmehr, wie wir mit diesen Problemen umgehen wollen. Wer zu Problemen eine negative Einstellung hat, wer sie verdrängt, verleugnet, verharmlost oder dauernd nur jammert, der verhindert gleichzeitig einen kreativen Prozess und dadurch eine mögliche Lösung.
Was würden Sie tun, wenn Sie 30 Jahre alt wären und unbedingt eine neue Arbeit haben möchten, die aber eine dreijährige und über 30 000 Franken teure Ausbildung bedingt? Viele stecken in einer solchen Situation den Kopf in den Sand. «Ich würde ja gerne, wenn …, aber …»
In solchen Momenten wäre dann Kreativität gefragt, wie das folgende Beispiel zeigt: Knapp 30 Jahre alt war sie, als sie merkte, dass sie sich in ihrem Beruf zunehmend unwohl fühlte. Sie hatte den Wunsch, im Sozialbereich tätig zu sein. «Woher soll ich denn dieses Geld nehmen?», fragte sie sich. Ausserdem würde sie während dieser dreijährigen Ausbildung kaum arbeiten können, da sie von Montag bis Freitag in der Schule wäre. Nach reiflicher Überlegung entschied sie sich für diese Ausbildung. «Ich werde alles dafür tun, um dies irgendwie zu schaffen.» Drei Jahre später hat sie die Ausbildung erfolgreich abgeschlossen. Aber natürlich nicht einfach so – es brauchte doch einiges, um das möglich zu machen.
Als Erstes gab sie ihre Wohnung auf und bezog bei einer Freundin ein kleines Zimmer. Dadurch sparte sie schon mehrere tausend Franken Wohnungsmiete. Gleichzeitig verzichtete sie während dieser drei Jahre auf sämtliche Ferien, auf neue Kleider und sonstigen «Luxus», wie sie es nannte. Auch damit sparte sie einige tausend Franken. Zusätzlich verkaufte sie ihr Auto, und an den Wochenenden verdiente sie sich etwas Geld mit einem Job in einem Restaurant. Schliesslich konnte sie von einer Kollegin noch ein paar tausend Franken ausleihen. Sie wusste ja, dass sie nach der Ausbildung deutlich mehr verdienen würde als zuvor und dann dieses Geld innerhalb kurzer Zeit wieder zurückbezahlen könne. Das ist kreative Problemlösung.
Mit Problemen können wir auf verschiedene Arten umgehen. Eine Möglichkeit ist die Haltung: «Hier kann ich eh nichts machen, ich muss das so hinnehmen.» Das ist die klassische Opferhaltung und diese ist weit von der Kreativität entfernt. Natürlich gibt es Situationen, die wir einfach hinnehmen müssen, doch sollten wir uns schon gut überlegen, ob dem denn auch wirklich immer so sei.
Eine zweite (und auch ziemlich verbreitete) Art, mit Problemen umzugehen, ist die Verdrängung. Man schaut einfach weg, man übersieht und übergeht den Missstand. Die Krux dabei ist jedoch, dass sich ein Problem nur sehr selten in Luft auflöst, wenn man ihm keine Beachtung schenkt. Im oben erwähnten Falle hätte das bedeutet, dass diese junge Frau die Unzufriedenheit bezüglich ihrer Arbeitsstelle kurzerhand verdrängt und dann in aller Stille weiter gelitten hätte – im schlimmsten Fall jahrelang. Solches Verhalten bezahlen wir nicht selten mit Krankheit. Die Seele leidet – und irgendwann reagiert dann auch der Körper.
Die dritte und wohl beste Möglichkeit im Umgang mit einem Problem ist, ihm in die Augen zu schauen, es als solches zu erkennen und dann auf irgendeine Art aktiv (oder eben kreativ) zu werden. Doch wie macht man das?
Es gibt kein Patentrezept, wie man Probleme löst. Zu unterschiedlich sind die jeweiligen Situationen, zu unterschiedlich auch die Menschen, die in problematischen Situationen stecken. Und so kann eine Lösung für den einen richtig und für die andere falsch sein. Was aber sicher für alle gilt bei der Bewältigung von Problemen: Als Erstes gilt es, ein Problem wahrzunehmen, zu erkennen und zu benennen. Danach muss eine Entscheidung getroffen werden: «Will ich das Problem einfach belassen oder bin ich bereit, es zu lösen, auch wenn damit Aufwand verbunden ist?» Und wenn ich letztere Frage mit «Ja» beantwortet habe, dann erst kann ein kreativer Prozess in Gang kommen.
Kreativ können wir nur sein, wenn wir bereit sind zu handeln. Kreativität ist eng verwandt mit Aktivität, auch wenn der Ausgang oft noch unsicher ist.
Nur mit dem unbedingten Willen, ein Problem auch wirklich lösen zu wollen, können wir kreativ werden, um zu einem guten Ende zu kommen.
Zum Glück geht es beim Lösen von Problemen nicht immer um Leben und Tod. Doch das Beispiel mit dem Bauern und seinem Kind zeigt, dass manchmal Aussergewöhnliches notwendig ist, um ein Problem zu lösen. Und dieses Aussergewöhnliche wäre dann eben das sogenannte «Kreative»!