18. November 2022

Leben im Wohlstand

Leben im Wohlstand
Lesezeit ca. 7 min

«Was nützen mir unser wunderschönes Haus, unsere zwei Autos, das Ferienhaus in Teneriffa, die teuren Kleider und das viele Geld, wenn dabei trotzdem meine Gedanken ständig rasen und mein Herz blutet?» Diese Aussage einer sogenannt «wohlhabenden» Frau klingt nach purer Verzweiflung. Sie regt zur Frage an, wie es denn wirklich um das Wohlbefinden in unserer Gesellschaft bestellt ist.

Persönliches Wohlgefühl

Stellen Sie sich einmal eine Skala vor, die von eins bis zehn reicht: eins bedeutet «Ich fühle mich absolut unwohl», zehn «Ich fühle mich absolut wohl». Wie hoch würden Sie den Stand Ihres Wohlgefühls einstufen? Seien Sie bei der Bewertung unbedingt ehrlich mit sich selbst. Dabei sollten wir aber berücksichtigen, dass sich unser Wohlgefühl von Tag zu Tag verändern kann. Es gibt Tage, an denen wir uns besser fühlen und Tage, an denen es uns weniger gut geht. Doch trotz täglicher Schwankungen bleibt ein Grundgefühl. Wir fühlen uns mehr oder weniger wohl.

Nachdem Sie sich eingestuft haben (und möglicherweise weniger als zehn Punkte erreicht haben), stellen Sie sich einmal die Frage, was in Ihrem Leben allenfalls fehlt, damit Sie sich gänzlich wohlfühlen könnten. Träumen Sie von einem Lottogewinn? Möchten Sie ein eigenes Haus oder ein besseres Auto? Wünschen Sie sich teure Ferien? Oder wird Ihnen bewusst, dass Ihr Wohlgefühl weniger von äusseren Dingen, als vielmehr von anderen Faktoren abhängt? Hängt es mit den Gedanken oder den Gefühlen zusammen? Spielen die Beziehungen und die Liebe eine wesentliche Rolle, die Gesundheit oder die Arbeit?

Die Antworten auf obige Fragen können individuell sehr unterschiedlich ausfallen. Es gibt diesbezüglich kaum eine allgemein gültige Wahrheit. Trotzdem: Wer sich wirklich wohlfühlt, wer sich tatsächlich im Wohlstand wähnt, fühlt sich auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Bereichen wohl. Der schon etwas strapazierte Begriff «ganzheitlich» trifft hier den Nagel auf den Kopf.

Gedanken beeinflussen unser Befinden

Wesentlich für das eigene Wohlgefühl ist ohne Zweifel der persönliche Bereich. Wie gehe ich mit mir selbst um? Welche Gedanken habe ich, welche Gefühle erfreuen oder belasten mich? «Die Gedanken sind frei», heisst ein altes deutsches Volkslied. In der Tat: Wir sind in kaum einem Bereich freier als in unserer Welt der Gedanken. In jedem Moment entscheiden wir selbst, wie wir von uns, von anderen Menschen, vom Leben oder von der Welt denken. Wir können über unsere Situation positiv oder negativ denken.

Die Wirkung dieser Gedanken auf die Welt ist vielleicht sehr gering. Die Wirkung auf unser persönliches Wohlgefühl aber ist immens. Wie hinlänglich bekannt ist, sind Gedanken wirkende Kräfte – oder wie es Buddha formulierte:

«Der Geist ist alles; was du denkst, das wirst du.»
Buddha

Buddhas Satz entspricht übrigens der berühmten biblischen Aussage, dass man das erntet, was man zuvor gesät hat.

Gedanken hängen eng mit den gesprochenen Worten zusammen. Folglich kann ich meine Gedanken darauf prüfen, wie ich über mich, über andere und über das Leben spreche. Und dann kann ich es so lassen, wie es ist, oder eben ändern. Das ist meine persönliche Entscheidung.

Bewusst mit Gefühlen umgehen

Etwas schwieriger ist der Umgang mit den Gefühlen. Diese sind oft diffuser als die Gedanken. Doch ihre Wirkung auf das Wohlbefinden ist mindestens so gross wie diejenige der Gedanken. Plagen mich Schuldgefühle, Trauer, Wut, Groll, Minderwertigkeitsgefühle, Angst, Furcht, Eifersucht oder Neid? Unsere Gefühlswelt ist komplex und nicht immer leicht veränderbar.

Trotzdem: Wer bewusst mit seinen Gefühlen umgeht, erhöht die Möglichkeit, ein Wohlgefühl zu erzeugen. Bewusst mit Gefühlen umgehen heisst, Gefühle in erster Linie wahrzunehmen, statt sie zu verdrängen.

«Erst wenn Gefühle wahrgenommen und akzeptiert sind, lassen sie sich – falls notwendig – auf eine positive Ebene führen.»
Albin Rohrer

Wer (zu) viele unangenehme Gefühle mit sich herumträgt, sollte sich einmal die Frage stellen, ob nicht viele Probleme durch Verzeihen gelöst werden könnten. Kann ich anderen Menschen (und vor allem auch mir selbst) alles verzeihen, was bislang nicht ganz nach meinen Idealvorstellungen gelaufen ist? Menschen, die sich wirklich wohlfühlen, haben diesen Schritt hinter sich. «Verzeihen», sagte Paracelsus, «heilt mehr Krankheiten als alle Antibiotika zusammen.»

Positives Körpergefühl

Ein gutes Körpergefühl ist unabdingbar für unser gesamtes Wohlbefinden. Doch obschon es alle wissen, vernachlässigen viele ihren Körper sträflich und beklagen sich hinterher über mangelhaftes Wohlgefühl. Körperpflege heisst nichts anderes, als seinen Körper zu akzeptieren und vor allem zu respektieren.

«Wer sich mit seinem Körper anfreunden will, schenke ihm vier Dinge: genügend Bewegung an der frischen Luft, gesunde Ernährung, regelmässige Ruhe und Entspannung sowie sinnliche Befriedigung.»
Albin Rohrer

Unzählige Bücher zu diesem Thema sind schon erschienen, viele davon widersprechen sich. Wer vor lauter widersprüchlichen Informationen bald nicht mehr weiss, was zu tun ist, lege einfach alle Bücher und Texte (inklusive den vorliegenden) beiseite und versuche, selbst zu spüren, was dem Körper guttut. Der Körper meldet sich nämlich regelmässig und ziemlich deutlich. Er sagt uns, was er braucht, sofern wir die Bereitschaft haben, ihm aufmerksam zuzuhören. Dies gelingt jedoch besser auf einem Spaziergang durch den Wald, als Nüssli knabbernd vor dem Bildschirm. Im Wohlstand leben kann eben auch dadurch zum Ausdruck kommen, auf alle Utensilien des sogenannten Wohlstands zu verzichten, um sich dem Einfachen zuzuwenden; zum Beispiel einem Wald.

Beziehungen pflegen

Der Mensch ist bekanntlich ein soziales Wesen. Er braucht andere Menschen. Er braucht Beziehungen zu anderen Menschen. Gute Beziehungen. Der Mystiker Thomas Merton sieht in den Beziehungen (und in der Liebe) die Grundlage für das Wohlbefinden:

«Ohne Liebe kann es kein Wohlbefinden geben. Liebe ist das Herzstück jeglichen Wohlbefindens, sie ist Macht, Mittel, Inhalt und Ziel der Ganzheit.»
Thomas Merton

Wer gern im Wohlstand leben möchte, pflege folglich nicht nur sein Auto, seinen Garten oder seinen Körper, sondern auch seine Beziehungen. Und zwar alle. Die Beziehung zur Partnerin oder zum Partner, die Beziehung zu Familienangehörigen, Freundinnen, Bekannten, Nachbarn oder Arbeitskollegen.

Wirklich guten Beziehungen liegt gegenseitiger Respekt zugrunde. Das führt zu den Fähigkeiten, Konflikte auszutragen sowie andere in ihrem Anderssein zu akzeptieren. Und diesbezüglich schliesst sich der Kreis von den eigenen Gedanken und Gefühlen mit den Beziehungen: Wer nämlich mit sich selbst nur schwer zurechtkommt, hat meist auch Schwierigkeiten in den Beziehungen. Eine schöne Geschichte über Wohlstand und Beziehungen erzählte einst Anthony de Mello: «’Ich werde hart arbeiten, und eines Tages werden wir wohlhabend und reich sein’, sagte der Ehemann. Seine Frau antwortete: ‘Wir sind schon reich, Liebster, denn wir haben einander. Eines Tages werden wir vielleicht Geld haben …’»

Das Spirituelle anerkennen

Und zu guter Letzt: Verlassen wir uns in unserem Leben ausschliesslich auf den Intellekt, unser angelerntes Wissen und Können, oder vertrauen wir auch unserer Eingebung, und erkennen wir auch das Spirituelle an? Der libanesische Dichter Khalil Gibran hat über das Dichten Folgendes gesagt: «Die Unterscheidung von Intelligenz und Eingebung innerhalb der Dichtkunst gleicht dem Unterschied zwischen scharfen Fingernägeln, welche die Haut aufreissen, und zarten Lippen, welche die Wunden des Körpers küssen und heilen.»

Vielleicht hat dieser Unterschied nicht nur in der Kunst des Dichtens Gültigkeit, sondern auch in der Kunst, im Wohlstand zu leben?