Häufiger als früher sieht man sie: Männertränen – vor allem dann, wenn es Freudentränen oder Tränen der Rührung sind. Doch sind Männer traurig, verletzt und frustriert, weinen sie meist nur heimlich.
Meine Mutter ächzt sich an den Küchentisch. Sie zählt acht Pfefferkörner ab und schluckt sie, wie jeden Tag. «Soll gegen Alzheimer helfen», brummt sie. «Hätte ich mir sparen können, hätte ich gewusst, dass mich der Krebs holt.» Wir grinsen beide – dem Tod ins Gesicht.
Mir wird bewusst, dass dieser Tod mir meine Mutter nehmen will. Ich spüre einen Krampf in der Brust und Tränen aufsteigen, meine Augen füllen sich mit Wasser, der Blick wird schwammig. Ich kämpfe gegen sie an – gegen diese Tränen.
Diese Szene ist nun schon ein paar Jahre her. Auch heute noch schäme ich mich, wenn ich vor jemandem oder im stillen Kämmerlein weine. Denn ich will mich schützen, mir keine Blösse geben, will «auf stark machen». Dann denke ich daran, was mir meine Mutter damals mit auf den Weg gegeben hat:
Stimmt: Tränen hinunterzuwürgen, tut niemandem gut – schadet letztlich einem selber: Man(n) wird krank. Weinen hingegen erleichtert und befreit. Ich hoffe, dass es mehr und mehr selbstverständlich wird, auch als Mann zu seinen Gefühlen zu stehen, ebenso mit Tränen: zu Traurigkeit, Enttäuschung, zu Wut, Zorn, zu Frustration, zu Freude.
Die Jungs von heute haben es leichter. Dachte ich. Bis ich vor Kurzem einen siebenjährigen Jungen antraf. Er war sichtlich stolz, dass er nicht weinte, als er den Hund zurückgeben musste, den er gehütet hat. «Im Gegensatz zu meinen Schwestern!»
Auf diese Episode habe ich Christoph Walser angesprochen. Seit über zwanzig Jahren ist er Experte in männerspezifischer Beratung und Bildung.
Christoph Walser: Für die Buben und Männer, die jetzt jung sind, ist es weniger tabu, zu weinen. Für jene Generation, der ich angehöre, war und ist das nahezu ein Tabu.
Weint man, verliert man die Kontrolle. Zunächst schämt man sich, weil man so sozialisiert worden ist, dass es zentral sei, sich selber zu kontrollieren. Versagt diese Kontrolle, hat dies den Vorteil, dass es einen entlastet – und Nähe zu anderen schaffen kann.
Für einen Mann ist es wertvoll, wenn ein anderer ihm die Erlaubnis gibt, seinen Tränen freien Lauf zu lassen. Das öffnet den Raum, ermöglicht Tiefe und Nähe.
Nein, oft kommt zur inneren Bewertung jene von aussen. Das verstärkt das Gefühl von Scham. Männer versuchen darum meist, Tränen zu unterdrücken.
Weil sich das Männerbild gewandelt hat. Zudem sieht man vermehrt, dass auch männliche Stars weinen – sie werden damit zu Vorbildern.
Zum Beispiel. Es gibt etliche Männer, die in der Öffentlichkeit zu ihren Tränen stehen – und damit zu ihren vermeintlichen Schwächen.
Bei Buben gibt es immer noch Gefühle, die sozial besser akzeptiert sind als andere. So werden Wut, auch Freude und Lust gern gesehen. Das sind Gefühle, die Jungs stark werden lassen. Darum werden sie gern gesehen.
Trauer wird bei Buben anders – negativ – bewertet als bei Mädchen. Trauer ist für Jungs ein Gefühl, das mit Scham behaftet ist. Darum ist es eher tabuisiert.
Genau. Vermeintlich schwach zu sein, wird noch immer negativ bewertet. Alles, bei dem man mit angeblicher Stärke auftrumpfen kann – wenn man also zum Beispiel nicht weint – wird gesellschaftlich als positiv angesehen. Darum ist es für Männer oft schwieriger, sich verletzlich zu zeigen.
Offenbar, vielleicht aufgrund der Publizität und der Ausstrahlung. Und wenn es bei einem aussergewöhnlichen Moment, bei einem Sieg, passiert. Im Alltag hingegen wird es oft negativ ausgelegt.
Das hat mit der Sozialisierung unter Jungs zu tun, mit der Hierarchie in den Peergroups. Die älteren Buben gelten als die stärkeren. Ist man jünger, eifert man ihnen nach, orientiert sich an ihnen. Da ist es hinderlich, Gefühle zu zeigen.
Ihre Rolle wird überschätzt. Buben vergleichen sich mit anderen Buben, vor allem mit den älteren. Und es tritt in den Hintergrund, was Eltern zu vermitteln versuchen.
Das kann man in drei Schritten zusammenfassen. Viele Männer haben sie nicht gelernt. Doch man kann das üben – und so einiges dazu beitragen, dass man zufriedener und ausgeglichener durchs Leben geht.
Zuerst gilt es, ein Gefühl wahrzunehmen, auf sensorischer Ebene. Zum Beispiel als Krampf im Bauch, als Schwere beim Herzen, als Ziehen an einem bestimmten Ort. Zweitens geht es darum, sich selber die Erlaubnis zu geben, diesem Gefühl zu trauen, es ernst zu nehmen, es zu würdigen.
Gefühle sind nicht gut oder schlecht – sie sind. Man soll sie akzeptieren und annehmen, ohne sie zu werten.
Sich Zeit nehmen, Worte für diese Gefühle finden: Sie benennen. Innerlich Abstand nehmen und den Kopf einschalten: Auslöser erkennen, Muster ergründen.
Ja, man kann zum Beispiel von Alkohol oder Medikamenten abhängig werden, weil man dem Schmerz so ausweichen will. Die grösste Sucht von Männern ist meiner Erfahrung nach eine Verhaltenssucht: die Arbeitssucht.
Sehr viele Männer definieren ihren Wert und sich selbst über die Leistung bei der Arbeit – sie flüchten sich in die Arbeit. Um schwierige Gefühle oder Gespräche zu umschiffen. Eine ideale Ausrede, denn Arbeit ist in unserer Gesellschaft positiv besetzt. So heisst es ja: Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen.