30. September 2022

Mehr als nur ein Streit

Mehr als nur ein Streit
Lesezeit ca. 8 min

Häusliche Gewalt ist ein Tabuthema, über das viele den Mantel des Schweigens legen. Sie hat viele Gesichter und ist mehr als nur ein Streit. Selina R. (Name der Redaktion bekannt), Fachberaterin Opferhilfe im Frauenhaus Thun-Berner Oberland, erläutert, was in einem solchen Fall zu tun ist.

Was regelt das Opferhilfegesetz?

Selina R.: Bei der Opferhilfe handelt es sich um eine staatliche Hilfeleistung. Betroffenen und deren Angehörigen soll bei häuslicher Gewalt geholfen werden. Die Leistung umfasst die Beratung und Soforthilfe, die Kostenbeiträge für längerfristige Hilfe Dritter, die Entschädigung und Genugtuung sowie den Schutz und die Rechte im Strafverfahren. Wichtig erscheint mir, zu erwähnen, wer als Opfer gilt: Opfer im Sinne des Opferhilfegesetzes ist jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen und sexuellen Integrität beeinträchtigt worden ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob der oder die Täter bekannt sind und die Tat vorsätzlich oder fahrlässig verübt, oder ob eine Strafanzeige eingereicht wurde.

Ab welchem Zeitpunkt sprechen wir von häuslicher Gewalt?

Häusliche Gewalt ist mehr als ein Streit. Es handelt sich um eine wiederholte Gewaltanwendung. In diesem Zusammenhang sprechen wir auch von der Gewaltspirale. Häusliche Gewalt kommt vorwiegend in physischer, psychischer, sexualisierter oder ökonomischer Form vor. Sie bezeichnet Gewalttaten zwischen Menschen, die in einer häuslichen Gemeinschaft leben oder gelebt haben. Hierbei kann es sich um Ehepaare, Partnerschaften, Eltern, Kinder oder auch Geschwister handeln. Im Kontext der häuslichen Gewalt besteht zudem ein Machtgefälle.

«Häusliche Gewalt ist keine Frage der Kultur, der Ethik oder des Glaubens. Sie soll als strukturelle, gesellschaftliche Problematik verstanden werden. Sie hat eine grosse Bandbreite und zieht sich quer durch alle Schichten unserer Gesellschaft.»
Selina R. (Name der Redaktion bekannt)
Fachberaterin Opferhilfe im Frauenhaus Thun-Berner Oberland

Häusliche Gewalt hat viele Gesichter. Welches zeigt sich am häufigsten?

Die am häufigsten vorkommenden Formen sind wiederholte Tätlichkeiten, einfache Körperverletzung, Drohung, Vergewaltigung, Beschimpfung, Beleidigung und Kontrolle.

Welches sind die auffälligsten Erkennungsmerkmale und was ist zu tun?

Wichtig bei häuslicher Gewalt ist hinschauen statt wegsehen. Wenn Nachbarn Laute oder gar Schreie aus einer Wohnung vernehmen, sollten sie diese als Warnsignale wahrnehmen und umgehend aktiv werden. Wir raten dazu, die Polizei unter der Nummer 117 zu kontaktieren – das kann womöglich Leben retten. Im Weiteren unterstützen Sie bitte Betroffene bei der Kontaktaufnahme mit einer Opferberatungsstelle in Ihrem Wohnkanton.

Werbeplakat der Schweizer Frauenhäuser⁄

Wie ist das Verhältnis von Gewaltopfern mit Migrationshintergrund zu einheimischen Frauen?

Wie schon gesagt ist häusliche Gewalt ein strukturelles, gesellschaftliches Problem, das sich durch alle Schichten unserer Gesellschaft zieht. Fakt ist, dass nicht alle betroffenen Frauen und Kinder die gleichen Möglichkeiten haben. Eine einheimische Frau, der häusliche Gewalt widerfährt, weiss in der Regel, was zu tun ist. Sie verfügt womöglich über ein grosses soziales Netzwerk, kennt eher die Opferhilfe und Beratungsstellen, an die sie sich wenden kann.

Hingegen leben Migrantinnen vielfach eher isoliert. Sie befinden sich möglicherweise seit Jahren in der besagten Gewaltspirale, der sie nur schwer entkommen können. Oftmals bietet sich Migrantinnen beim Besuch eines Deutschkurses die Möglichkeit, sich der Kursleitung mitzuteilen und entsprechend Unterstützung zu erhalten.

Stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, dass häusliche Gewalt während der Pandemie zugenommen hat?

Das war erkennbar. Die Gründe für den Anstieg sind vielseitig: Einerseits brachten Homeoffice und Homeschooling eine räumliche Enge mit sich. Zum anderen waren die Menschen mit der Situation allgemein stark gefordert. Dazu kamen oft Existenzängste und die Angst eines möglichen Jobverlusts. Während der Pandemie wurden vermehrt Kinder von häuslicher Gewalt direkt betroffen.

Kinderzeichnung «Blick in die Zukunft»

Wie ist das Frauenhaus Thun-Berner Oberland organisiert?

Die Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern im Kanton Bern betreibt folgende vier Fachstellen: Frauenhaus Bern; Frauenhaus Thun-Berner Oberland; Lantana Fachstelle Opferhilfe bei sexueller Gewalt, Bern; Vista – Fachstelle Opferhilfe bei sexueller und häuslicher Gewalt, Thun. Das Frauenhaus Thun-Berner Oberland ist eine anerkannte Opferhilfestelle und bietet Platz für sechs Frauen und acht Kinder.

Weiter gilt es, für den Kanton Bern «AppElle!» zu erwähnen. Hierbei handelt es sich um ein kantonales Pilotprojekt. «AppElle!» ist eine zweisprachige Hotline und wird mithilfe privater Spenden finanziert. Unter der Nummer 031 533 03 03 bietet der Notruf rund um die Uhr telefonische Beratung für betroffene Frauen, deren Angehörige und Fachpersonen.

Beschreiben Sie das Prozedere vom Erstkontakt mit den Frauen bis zur Unterbringung im Frauenhaus.

Der Standort unseres Frauenhauses ist aus Schutz- und Sicherheitsgründen anonym. Bekannt sind die Postfachadresse und die Telefonnummer. Der Erstkontakt findet in der Regel telefonisch statt; entweder setzen sich von Gewalt Betroffene selbst, die Polizei, verschiedene Fachpersonen oder Institutionen mit uns telefonisch in Verbindung. Mit Hilfe des Telefongesprächs wird der Opferstatus geklärt. Das heisst: Wir prüfen, ob der Tatbestand der häuslichen Gewalt vorliegt und das Frauenhaus die richtige Anlaufstelle für die Frauen ist. Unsere Kapazitäten sind begrenzt, die Nachfrage hingegen ist gross. So kann es auch vorkommen, dass Betroffene aus dem Kanton Bern in ausserkantonalen Frauenhäusern platziert werden, da wir für alle Betroffenen eine Lösung suchen und finden.

Welche Hilfsangebote bietet das Frauenhaus?

Wir sind eine Kriseninterventionsstelle mit weitreichenden Aufgaben. Unser Auftrag beginnt mit dem Schutz und der Unterbringung Hilfe suchender Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt wurden. Dazu kommen die Opferhilfeberatung und Begleitung sowie Unterstützung bei der Alltagsbewältigung. Ein weiteres Angebot richtet sich an die Kinder und umfasst ihre Beratung, Begleitung und Unterstützung.

Werbeplakat der Schweizer Frauenhäuser

Welche Berufsgruppen arbeiten überwiegend in Frauenhäusern?

Im Frauenhaus Thun-Berner Oberland umfasst unser Tätigkeitsfeld sowohl die Arbeit mit den Klientinnen als auch mit deren Kindern. Die hier vertretenen Berufsgruppen sind Sozialarbeiterinnen, Sozialpädagoginnen, Psychologinnen und eine Fachfrau Betreuung Kind.

Gibt es eine Begrenzung der Aufenthaltsdauer?

Die Aufenthaltsdauer orientiert sich primär an der akuten Gefährdung der Klientinnen. Sobald die Frauen wieder in Sicherheit leben können, verlassen sie den Schutz des Frauenhauses.

Die Angst, von Tätern aufgespürt zu werden, ist ständige Begleiterin der Opfer. Was passiert, wenn dieses Horrorszenario eintritt?

Selbstverständlich sind wir auf solche Szenarien vorbereitet: Wir kennen die nötigen Vorgehensweisen und setzen diese auch um.

Wie nah lassen Sie die Schicksale der Frauen und Kinder an sich heran?

Die Arbeit im Frauenhaus setzt eine hohe Professionalität im Umgang mit der Thematik häusliche Gewalt voraus. Zusätzlich haben wir verschiedene Gefässe wie Supervision, Intervision usw., um unsere Arbeit zu reflektieren. Wir arbeiten mit der örtlichen Polizei zusammen und nutzen ebenfalls das Angebot des Bedrohungsmanagements und des Opferschutzes der Kantonspolizei Bern. Meine persönliche Ressource liegt in meinem Garten, in der Natur und auch in meiner Familie.

Haben betroffene Frauen, Kinder und Jugendliche je die Chance auf ein eigenständiges, friedvolles Leben?

Es besteht durchaus die Chance, dass es Klientinnen und ihren Kindern gelingt, sich eine neue Zukunft aufzubauen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Dies sind auch für uns Mitarbeitende erfüllende Momente.

Kinderzeichnung «Licht am Ende des Tunnels»

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich wünsche mir sehr, dass die Inhalte der Istanbul-Konvention, welche die Schweiz ratifiziert hat, zeitnah umgesetzt werden. Weitere finanzielle Mittel zur Prävention und zum Ausbau unserer Kapazitäten sind unumgänglich. Zudem hoffe ich, dass unser Pilotprojekt «AppElle!» als Modell für eine nationale 24-Stunden-Hotline dienen kann.

Herzlichen Dank für das vertrauensvolle und offene Gespräch.

Sind auch Sie Opfer häuslicher Gewalt und suchen einen Weg aus der Gewaltspirale?

Zögern Sie nicht länger: Wenn Sie im Kanton Bern wohnen, wählen Sie die Nummer 031 533 03 03. Andernfalls wenden Sie sich an die Opferhilfestellen Ihres Wohnkantons (frauenhaeuser.ch) oder an eine Person Ihres Vertrauens.

Denken Sie daran: Gewalt ist keine Option!

Suchen Sie Schutz?

frauenhaeuser.ch
AppElle 031 533 03 03

24/7-Hotline für Betroffene:

AppElle!