Erziehen heisst Einfluss nehmen auf das Verhalten, zunächst von Kindern. Viele Kampagnen und andere Werbung zielen auch auf Erwachsene. Missionieren (Belehren), Moralisieren (Verurteilen) und Motivieren sind verschiedene Erziehungsinstrumente: Auf welches der drei ist Verlass? Und was sind die Nebenwirkungen?

Motivierendes positives Beispiel

Zufällig geriet ich letzthin in einen TV-Bericht über ein positives Beispiel, das anscheinend einige Erfolge in der Erziehung nicht nur von Kindern, sondern von ganzen Bevölkerungsgruppen hat. Auch solche Berichte gibt es! Es scheint ein Selbstläufer zu sein, der nicht über Missionieren und schon gar nicht über Moralisieren (und Angstmachen) funktioniert.

Unter dem Titel «Eine Stadt nimmt ab» berichtete der Weltspiegel in der ARD aus Spanien. Dort soll die Ausbreitung der Fettleibigkeit (Adipositas) in den letzten zwanzig Jahren auf gegen 50 Prozent der Bevölkerung angestiegen sein. Dies liess den Hausarzt Pineiro in Naron (Galizien) tätig werden. Aber er drohte den Menschen nicht mit frühem Tod und missionierte keine Heilmethode, sondern wollte die Leute zum gemeinsamen Aufbruch in eine gesündere Lebensweise motivieren. Besonders freut mich sein Credo: «Klar ist jeder für seine Gesundheit selbst verantwortlich. Aber es wäre ein Fehler, dem einzelnen die Schuld an dieser Krankheit zuzuschieben. Es gibt ein soziales Umfeld, das Übergewicht begünstigt».

Da wird kein Unterschied zwischen  Eigenverantwortung und sozialer Einbettung gemacht: Weder wird der Einzelne aus der Eigenverantwortung billig entlassen, noch wird ihm diese moralisierend übergestülpt. Beides spielt zusammen und deshalb soll es auch gleichzeitig (oder in eins) angegangen werden. Eindrücklich ist, wie konsequent er seine Kampagne offenbar ohne Schreckensbilder startet. Wie überall wissen Leute nämlich schon zuvor, dass ihre Lebensweise ungesund ist. Daher musste er weder den Mahnfinger erheben, noch mit Belehrungen über die Schädlichkeit missionieren.

Ein Erfolgsrezept

Menschen mit schlechtem Gewissen tendieren dazu, sich abzuschotten und zu immunisieren gegen noch mehr Vorwürfe. Gleichsam nach dem Motto «Ist der Ruf (resp. die Gesundheit) mal ruiniert, lebt sich‘s gänzlich ungeniert». Leute – namentlich auch Jugendliche – lassen sich zwar gerne missionieren, wenn ihnen sinnstiftende Ziele angeboten werden. Ziele allein führen aber meist nicht über fromme Wünsche oder Sonntagsreden hinaus.

«Fehlt den Aufklärungen und Zielsetzungen die praktische Ebene, lösen sie keine Veränderung aus. Die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen wollen etwas tun – und hören nicht gerne, was sie alles lassen sollten.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Offenbar gelang es dem Arzt, in der Kleinstadt eine Entwicklung zu lancieren, in der verschiedene Gruppen mit demselben Ziel verschiedenste Aktionen starteten. Diese erstrecken sich vom gemeinsamen Laufen in Gruppen verschiedener Fitnessstufen über Gemüsepflanzen in Kindergärten bis zu öffentlichen Kochkursen mit alten Rezepten und dem Wiederentdecken alter Traditionen. Ich zitiere den Bericht des Weltspiegels: «Es braucht schon viel Zuversicht, um daran zu glauben, dass man Tausende Menschen gleichzeitig dazu bringen kann, ihr Leben zu verändern.» Obwohl er «als Verrückter» abgestempelt wurde, hat seine Bewegung offenbar mehrere tausend Leute dazu gebracht, sich gegen ihr Übergewicht täglich einzusetzen.

Missionieren, Moralisieren, Motivieren

Motivation dank Solidarität

Der Bericht hebt ursprünglich nicht beabsichtigte Effekte der Entwicklung hervor: Die junge Generation beginnt sich für die alten Traditionen zu interessieren. Spiele und Tänze auf öffentlichen Plätzen – beide haben viel mit fröhlicher gemeinsamer Bewegung zu tun – gewinnen ihre Anhänger zurück und lassen ein neues Gemeinschaftsgefühl wachsen. Ein Mädchen erzählt, dass sie ihre Grossmutter nach den Spielregeln fragt, wenn sie sie nicht mehr kennen oder uneins sind, was gelten soll. Eine andere ist begeistert, dass bei den alten Spielen Mädchen und Buben gemeinsam mitmachen können, was beim Fussball nie gelinge. Andere berichten, wie ihnen die Gemeinsamkeit der Aktionen hilft, sich auch dann zu motivieren, wenn der Schwung nachlässt oder trübe und träge Stimmungen drohen, im Bemühen nachzulassen. «Wenn der Nachbar auch mitmacht, dann kriegst du so ein ‚Wir schaffen das’-Gefühl.»

Aus der Solidarität und dem Generationen übergreifenden Ansatz erwachsen Stolz und Selbstachtung. Und auch dieser ist zugleich individuell und  solidarisch. Die Solidarität ist ein Motor: Sie ist nicht primär auf Leistung ausgerichtet, nicht auf individuellen Erfolg und schon gar nicht auf Konkurrenz.

«Das Miteinander ist Ziel und Freude. Sie motiviert nach meiner Überzeugung besser als Ehrgeiz, Neid und Konkurrenz.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Vielfalt gegen Langeweile

Aber damit die Entwicklung zum Laufen kommt, braucht es auch Ideen, Kreativität und Kooperation; denn langweilig darf es nicht werden. Besonders imponiert mir im Bericht, wie breit die entwickelten Aktivitäten gestreut sind. Im Zentrum stand anfangs sicher auch hier die Verbesserung des Bewegungs- und des Essverhaltens. Aber die Aktionen blieben nicht auf ihre angepeilten Missstände fixiert.

Es ist nicht nur die gemeinsame Anstrengung, sondern vor allem auch die Ausweitung der Angebote gemeinsamer Gestaltung, die Raum lässt für den «Weder-Sport-noch-Küchen-Interessierten». Die verschiedenen Haltungen und Interessen werden nicht gegeneinander ausgespielt, es scheint keine Preise und Ehrentitel zu geben. Die Bevölkerung wurde ursprünglich mit Handlungsangeboten motiviert und motiviert sich jetzt gegenseitig. Es scheint, dass die Stadtgemeinschaft sich selber in Schwung hält respektive das Motivieren übernommen hat.

Verantwortung teilen

Ich komme nochmals zurück auf die ärztliche Erklärung: «… es wäre ein Fehler, dem einzelnen die Schuld an dieser Krankheit zuzuschreiben …» Die Moralisierung von Krankheit hat eine lange Geschichte. Über Jahrhunderte wurden Beschwerden und Krankheit als Strafe Gottes für begangene Sünden interpretiert. Noch früher – beim biblischen Hiob – sind sie Prüfungen, um sich in der Glaubenstreue zu beweisen. Mit den Erfolgen der Naturwissenschaft werden natürliche Ursachen ausserhalb des Einzelnen verortet. Die Genforschung wiederum verortet die Ursachen in der individuellen Herkunft. Dennoch bleibt die religiöse Tradition in den Gesundheitsappellen erhalten, den Einzelnen für seine Störungen verantwortlich zu machen. In der Krankenkassenpolitik haftet der Einzelne für seine Krankheitskosten – allerdings nur bis zu einem gewissen Betrag.

Wenig bis nie hört man den Denkansatz von Piniero: «Die individuelle Selbstverantwortung ist innerhalb des sozialen Umfeldes ernst zu nehmen.» Und doch ist er wohl richtig: Der Einzelne kann etwas tun, aber nur in Massen und in den Schranken seiner Lebenswelt. Er/sie ist zwar nicht nur das Opfer der Umstände, wie sich einige Betroffene in ihren Opferklagen offenbar selber einschätzen. Es bringt aber auch nichts, durch Verantwortungsüberforderung den einzelnen Leuten ein lähmend schlechtes Gewissen zu machen.

Missionieren, Moralisieren, Motivieren

Gemeinsames Handeln

Es besteht ein dialektischer Zusammenhang: Handelnd gestalten wir unser Lebensumfeld – einerseits; bereits ab Geburt gibt uns dieses aber andererseits Möglichkeiten (Potentiale) und Grenzen vor. Nur innerhalb derer können wir gestalten. Sehen wir nur den einen Teil (Potentiale, beispielsweise Gene und Grenzen) bleiben wir Opfer der Verhältnisse; sehen wir nur den andern Teil («Jeder ist seines eigenen (Un)Glückes Schmied») überfordern wir uns und andere in übertriebener Zuweisung von Verantwortlichkeit. Beide Haltungen behindern jede Entwicklung – sowohl die individuelle als auch die gesellschaftliche.

Handlungsspielraum des Einzelnen wächst mit der Einbindung in eine Gemeinschaft. Gemeinsame, aktive Teilnahme des Einzelnen mit andern zusammen verändert die Gemeinschaft und den Einzelnen in eins. Der Schlüssel zur Verbesserung – nicht nur der Gesundheit, sondern auch des Wohlstandes und der Kultur – liegt in der Förderung und Ermutigung zu gemeinsamem Handeln.

«Schuldzuweisungen (Moralisieren) werfen Menschen in die Vereinzelung, in die Blockade depressiver Selbstzweifel oder gar in schuldgeplagte Passivität zurück. Missionieren und Wahrheiten im Brustton der Überzeugung propagieren, das einzige Heilmittel zu kennen, führen zu Abwendung (Isolierung) oder zu Mitläufertum der andern.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Schauen wir dazu, eigene  Handlungskompetenz in unserem Lebensumfeld aufzubauen. Zeigen wir unseren Kindern in Schulklassen, in Freizeitgruppen, in politischen Bewegungen, in kulturellen Aktionsräumen etc. Möglichkeiten auf, ihren eigenen Beitrag zur gemeinsamen Gestaltung auszuleben, ihr Lebensumfeld zu fördern, dieses und zugleich sich selber neu zu erfinden.

Nur echte Partizipation bringt sich selber motivierende Aktionen der Gemeinschaft zustande, und nur gemeinsamer Schwung hat die Kraft, «Zustände» zu verändern.