20. Januar 2023

Mit wenig(er) ins Glück

Mit wenig(er) ins Glück
Lesezeit ca. 7 min

Bescheidenheit, Genügsamkeit: Dies ermöglicht, sich aufs Wesentliche zu fokussieren. Wie kann man das aufs eigene Leben übertragen?

Seit neun Jahren wohnt Rémi Vuichard in einem Zirkuswagen in Romainmôtier. Auf siebzehn Quadratmetern. Vor Kurzem hat er seinen Wohnraum weiter reduziert. «Eineinhalb Meter weniger in der Länge», präzisiert er. «Das reicht mir.» An nichts fehle es ihm, betont er in einem Beitrag des TA-Magazins. «Ich habe eine Küche und eine Dusche, kann dank Gas kochen und warm duschen, habe Strom via Solarpanels und Wärme dank eines Holzofens.»

Ein Aussteiger? Nein. Rémi Vuichard führt ein Leben ähnlich jenem vieler anderer Menschen in Westeuropa: Er hat einen festen Job, zahlt Steuern und holt seine Post regelmässig ab.

«Es geht mir nicht darum, aus der Gesellschaft auszubrechen – ich wollte meinen Lebensstil ändern: weniger Besitz, weniger Belastung für die Umwelt, mehr im Einklang mit der Natur.»
Rémi Vuichard

Zurück in eine Wohnung, das kommt für Rémi Vuichard nicht in Frage. «Man hat zwar mehr Platz, aber trotzdem würde ich mich eingeengt fühlen. Mir würde das Zwitschern der Vögel fehlen. Die Farbveränderungen der Bäume. Das Trommeln des Regens auf dem Dach.»

Minimalistischer Traum

Wie Rémi Vuichard erfüllen sich hie und da Menschen den Traum des Minimalismus: mit möglichst wenig leben. In einer Welt des verbreiteten materiellen Überflusses hoffen sie auf Glück, indem sie sich von materiellem Ballast befreien. Das kann so weit gehen, dass man den Besitz aufs Maximum reduziert: nur noch jene Tasse, diesen Teller, jenes T-Shirt, diese Hose, jenes Buch – nur noch das wirklich absolut Nötige. Wie viel benötige, brauche ich? Manche kommen dabei auf vierzig Dinge, andere auf hundert.

Die meisten Menschen in unserem Kulturkreis hingegen wissen wohl nicht, wie viele Sachen sie haben. Ohne Besitz im Wald, in einer Höhle, auf einer Alp leben, von Materiellem losgelöst: Diese Lebensart des Entsagens und der Stille kennen wir von Menschen aus allen Weltreligionen. Die meisten Menschen in der Schweiz jedoch leben ein klassisch bürgerliches Leben. Doch auch in diesem Alltag kann die Haltung von Bescheidenheit und Genügsamkeit ins Leben hineinspielen, im Sinne von: Weniger ist mehr.

Das Leben aufgeräumt

Zum Beispiel Sara Pezzuto. Sie ist ein paar Jahre von Provisorium zu Provisorium getingelt, war ohne eigene Wohnung. Auch heute lebt sie bescheiden.
Rückblende: Sara Pezzuto fühlte sich nicht glücklich in ihrem Leben und hatte eben Job und Wohnung gekündigt – da kam dieses Angebot wie gerufen: in einer Berghütte in den Berner Alpen für das Wohl der Schneeschuh- und Langläufer*innen sorgen, die dort eine Pause einlegen.

So hatte Sara Pezzuto Arbeit, Kost und Logis; hatte alles, was sie brauchte – und viel Zeit für sich, in der sie allein war, sich kaum ablenken konnte. «Die einsamen Abende und Nächte», erzählt sie im Walliser Dialekt, «setzten mir zu. Doch ich war entschlossen, mich dem auszusetzen, was an die Oberfläche kam – es auszuhalten und anzuschauen. Das wurde zu einem regelrechten Aufräumen meines Lebens und fühlte sich mehr und mehr nach Befreien an. Zum Glück hatte ich Menschen, mit denen ich reden und denen ich mich anvertrauen konnte.»

Mit wenig(er) ins Glück

Damals war die Walliserin mitten in einer umfassenden Ausbildung zur Yogalehrerin. Diese Jahre waren turbulent. Sie hatte phasenweise keine eigene Wohnung und hangelte sich von Job zu Job. Die Ausbildungsblöcke waren für sie jeweils eine Zuflucht vom anstrengenden, überfordernden Leben. «Sie waren für mich eine Oase, in der ich mich ausruhen konnte, bevor ich mich wieder in meinen chaotischen Alltag stürzte.»

Auslöser für diese Turbulenzen war eine Krise nach der Trennung von ihrem damaligen Freund. Sie machte sich auf eigene Faust auf nach Kroatien, lebte mit und aus dem Rucksack, reiste von Ort zu Ort. In einem Backpackerhostel lernte sie Yoga kennen. «Ich wollte zuerst von Weitem zuschauen. Doch der Lehrer winkte mich zu sich und ermutigte mich, mitzumachen. Von diesem Moment an war Yoga Teil meines Lebens.» Fortan suchte Sara Pezzuto an jedem neuen Ort ein Yogastudio. «Meine ersten Yogastunden waren auf Kroatisch. Zwar verstand ich diese Sprache kaum. Doch Yoga geht von Herz zu Herz.»

Heute lebt Sara Pezzuto noch immer relativ bescheiden: eine kleine Wohnung, Fahrrad statt Auto. Eine feste Stelle in der Administration, Teilzeit. Dies, damit sie sich ihren Ausbildungen widmen kann. Denn sie hat ein klares Ziel vor Augen: Sie will dereinst von ihrer Arbeit als Therapeutin und Yogalehrerin leben können. «Eigentlich müsste mein Einkommen höher sein, um die Aus- und Weiterbildungen bezahlen zu können», sagt sie.

«Doch letztlich reicht es immer für alles, was ich brauche. Dieses Vertrauen trägt mich. Zudem schätze ich es, das Gelernte dank der freien Zeit anzuwenden und meine Selbständigkeit Schritt für Schritt aufzubauen.»
Sara Pezzuto
Sara Pezzuto | Mit wenig(er) ins Glück

Sara Pezzuto kommt mit relativ wenig Geld aus, hat aber höhere Fixkosten als früher. Ihren aktuellen Weg habe sie bewusst gewählt; gehe ihn mit Vertrauen, wie sie sagt. Das frühere Tingeln ohne festen Wohnsitz ist aus der Not entstanden. «Das Leben hat mir damals einen sehr kargen Lebensstil auferlegt – den ich nicht gesucht, dem ich mich schliesslich aber ergeben habe. Er war nötig, um mich an den Ort zu bringen, an dem ich heute bin. Im Wissen, dass es weitergeht, Schicht für Schicht tiefer. Ich bin jedoch innerlich gefestigter und weiss Kapriolen des Alltags geschickter aufzufangen.»

Aufs Wesentliche fokussiert

Bescheiden zu leben, erfüllt – nebst dem befreienden Loslassen von unnützem Ballast – eine weitere Sehnsucht: jene nach sinnvollem Leben, nach sinnvollem Tun. Das wird als Essenzialismus bezeichnet: den Fokus auf das legen, was uns wirklich wichtig und wesentlich ist. Trennen wir die Spreu vom Weizen, bleiben wenige Dinge und Menschen. Auf sie können wir unsere ganze Energie konzentrieren – und erfahren so innere Zufriedenheit. Das bedeutet, ausschliesslich zu jenen Dingen Ja zu sagen, die uns echt am Herzen liegen. Ist es kein hundertprozentiges Ja, ist es ein klares Nein. Ein Nein ist ein Ja zu allem, was man als wichtig empfinden kann: mehr Zeit, mehr Energie, mehr Passion.

Bescheidenheit, Genügsamkeit in allen Facetten umzusetzen und durch umfassenden Verzicht einen Beitrag zur weltweiten Solidarität und Gerechtigkeit zu leisten, ist wiederum eine andere Geschichte.

Dessen ist sich auch Rémi Vuichard bewusst: «Klar, konsequent bin ich nicht. Schliesslich fahre ich ab und zu Auto, kaufe nicht nur Bio und esse zwischendurch Fleisch. Und habe sogar eine Sauna – ein bisschen Luxus muss sein.»