Narben in der Liebe
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In nahezu jeder Partnerschaft kommt es ab und zu zu Verletzungen. Der richtige Umgang damit stellt die Weichen für die weitere Entwicklung der Beziehung.

Innere Kündigung

In der Arbeitswelt spricht man gelegentlich von «innerer Kündigung» einzelner Mitarbeitender. Laut Studien identifizieren sich bis zu zwei Drittel der Belegschaft nicht mit dem Unternehmen oder der Organisation als Arbeitgeber; sie erfüllen ihre Aufgaben mit wenig Engagement. Auslöser sind oft mangelnde Wertschätzung oder unfaire Behandlung durch Vorgesetzte. Wenig bekannt ist, dass es auch in Partnerschaften zur inneren Kündigung kommen kann. Typisch dafür ist etwa die Äusserung: «Ich warte, bis die Kinder erwachsen und aus dem Haus sind. Dann trenne ich mich.» Eine derartige Perspektive hat fast immer eine längere Vorgeschichte. Es begann als romantisches Liebesglück und endet mit dem Verlöschen des Feuers der Liebe.

Wie kann es so weit kommen?

Vergiftetes Beziehungsklima

Jede Verliebtheit lässt nach einigen Monaten nach, oft geht sie dann in eine Liebesbeziehung über.

«Lässt der Zauber füreinander in der ersten Phase der Beziehung nach, macht sich gelegentlich Störendes am Gegenüber bemerkbar: beispielsweise ihre notorische Unpünktlichkeit oder seine Wehleidigkeit. Was dann passiert, ist meist entscheidend für die Zukunft.»
Adrian Zeller

Nennt sie ihn wegen seiner Überempfindlichkeit verächtlich eine Mimose? Rüffelt er sie vor anderen, weil er immer wieder auf sie warten muss? Hier lauert eine Falle, die Paaren zum nachhaltigen Verhängnis werden kann: Es wird nicht in erster Linie störendes Verhalten kritisiert, sondern die ganze Person abgewertet. In einer Liebesbeziehung erwarten wir das Gegenteil: Nachsicht, Toleranz, Wertschätzung und Unterstützung bei der Überwindung von eigenen Schwächen. Anklagende Kritik dagegen schafft entweder Rückzug und Distanz oder führt zum Gegenangriff, nach dem Motto: «Verletzt du mich, verletze ich dich auch.»

Im ungünstigsten Fall entwickelt sich in der Folge ein vergiftetes Beziehungsklima mit ständigen Nörgeleien und spitzen Bemerkungen – schlimmstenfalls vor anderen. Nach einer Reihe von Verletzungen kippt die Verbindung in einen ständigen Machtkampf oder gar Kleinkrieg. Je länger die Situation anhält, desto schwieriger wird es, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Zu viele psychische Schrammen und Enttäuschungen erschweren eine Wiederannäherung.

Heimtückische unrealistische Erwartungen

Keine noch so romantische Beziehung kommt ohne gelegentliche Meinungsverschiedenheiten aus; eine Liebesbeziehung ist ein vielschichtiger Entwicklungsprozess. Auch hier macht der Ton die Musik: Enttäuschungen resultieren oft aus überzogenen Ansprüchen an die Liebe. Fachpersonen für Paare sehen die Ursache dafür in klischeeartigen Darstellungen in Liebesfilmen. «Hollywood hat unsere Vorstellung von Romantik und davon, was Leidenschaft brennen lässt, auf dramatische Weise verzerrt. Es mag das Herz pochen lassen, wenn man sieht, wie Humphrey Bogart Ingrid Bergman, der die Tränen in den Augen stehen, in den Arm nimmt. Doch um die Romantik im wahren Leben zu beleben, ist weit mehr Anstrengung vonnöten», schreibt der erfahrene Paarforscher John M. Gottman.

«Die Romantik wird am Leben gehalten, wenn Sie Ihren Partner wissen lassen, wie hoch Sie ihn wertschätzen, allem Alltagstrott zum Trotz.»

Gottman nennt ein Beispiel: «Romantik wächst, wenn Sie wissen, dass Ihrem Partner ein schwerer Arbeitstag bevorsteht, und Sie ihm morgens ein paar ermutigende Worte sagen.»

Liebe ist bedingungslos

Liebe ist vielfach von Missverständnissen geprägt oder wird mit einer bestimmten Verhaltenserwartung in Zusammenhang gebracht. Doch mit Liebe, die lediglich als Belohnung verteilt wird, stimmt etwas nicht. Liebe stellt keine Bedingungen – dies verdeutlicht die Elternliebe: Alle Eltern lieben ihre Kinder, auch wenn sie sich mal trotzig oder respektlos verhalten. Auch in einer Beziehung unter Erwachsenen stirbt echte Liebe nicht so leicht. Sie übersteht eine Beziehungskrise, eine schwere Krankheit oder den Verlust eines Vermögens. Ärger mit der Familie oder im Beruf wiederum kann gelegentlich ein Ventil beim Partner oder der Partnerin finden, die sich danach zu Recht verletzt fühlt.

« Die Liebe öffnet das Herz, dadurch nimmt auch die Verletzlichkeit zu.»
Adrian Zeller

Der persische Dichter und Mystiker Rumi (1207 bis 1273) hat diese Situation sehr anschaulich formuliert: «Du fragst nach einer Rose – lauf’ vor den Dornen nicht davon.» Liebe ohne Verletzungsrisiko gibt es nicht.

Rumi wird auch folgendes Zitat zugeschrieben: «Wenn du in den Garten gehst, siehst du dir die Blumen an oder die Dornen? Nimm dir mehr Zeit für Rosen und Jasmin.» Entscheidend ist, mit welcher Perspektive auf die Liebe geblickt wird. Werden die angenehmen Erfahrungen einer Partnerschaft genügend hoch gewichtet und gepflegt, kommt es weniger zu störender Nörgelei. Sie ist Ausdruck von chronischer Unzufriedenheit und verdirbt die Atmosphäre in einer Partnerschaft.

Eine Liebesbeziehung ist eine dynamische Verbindung: Ob ihre Entwicklung vor allem von Freude, Solidarität und Anteilnahme oder aber von Sticheleien, Entwertung und Lieblosigkeiten geprägt ist, bestimmen die Beteiligten weitgehend selbst.

Liebe zu sich selbst

Viel zu selten wird berücksichtigt, dass auch die Liebe zu sich selbst ein entscheidender Faktor ist für eine funktionierende Partnerschaft. Selbstliebe wird oft reflexartig mit Narzissmus gleichgesetzt. Obwohl diese Sichtweise weitverbreitet ist, ist sie falsch. Vielmehr bedeutet tatsächlicher Narzissmus eine Selbstbezogenheit in krankhaftem Ausmass. Während Liebe von Herzenswärme und Wohlwollen geprägt ist, erinnert Narzissmus eher an eiskalte Gier, die Zuneigung lediglich vorspielt. Narzisstinnen und Narzissten manipulieren andere und wollen sie dirigieren. Echte Selbstliebe meint eine gute Selbstfürsorge. Mit Eitelkeit und Selbstgefälligkeit hat sie nichts zu tun. Sie sucht nicht primär Selbstbestätigung durch Prestige, sondern bereitet sich selbst immer wieder kleine Freuden.

«Wer mit sich selbst fürsorglich umgeht und zugleich nachsichtig ist, geht automatisch auch wohlwollend und sensibel mit anderen um.»
Adrian Zeller

Dadurch reagiert man rechtzeitig auf ungünstige Veränderungen in der Partnerschaft und sucht nach positiven Korrekturmöglichkeiten. Diese werden weniger in Form von anklagender Kritik, giftigen Vorwürfen oder ultimativen Forderungen geäussert, sondern vielmehr als Wünsche und Verbesserungsvorschläge.

Verletzungen überwinden

Gegenseitige Beschuldigungen haben meist eine Vorgeschichte. Sie können das Resultat immer wieder übergangener Bedürfnisse sein, die viel Unmut und Frustration erzeugten. Dabei wird oft viel Geschirr zerschlagen, was zu gegenseitigen psychischen Verletzungen führen und das Zusammensein langfristig beeinträchtigen kann. Daher ist es wichtig, ungünstige Veränderungen in der Partnerschaft frühzeitig anzusprechen.

Narben in der Liebe

Bei Verletzungen ist eine schmollende Opferhaltung besonders heimtückisch: Sie trägt kaum zur konstruktiven Bewältigung einer psychischen Schramme bei. Wer in seiner Opferrolle verharrt, schiebt der anderen Person die alleinige Verantwortung für die Bewältigung der Situation zu und nimmt sich selbst nahezu sämtlichen Handlungsspielraum. Dies kann zu einer Auseinandersetzung um Macht und Ohnmacht sowie um die Schuldfrage führen, in der sich die Beteiligten leicht verheddern.

«Statt sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben, ist es weit nachhaltiger, gemeinsam nach konstruktiven Lösungen zu suchen und eine Verletzung auch mal ad acta zu legen.»
Adrian Zeller