Auf der Fahrt von Bern ins Oberland sehe ich die Bucht von Spiez mit dem Schloss, der Kirche und dem Wohnhaus, das einst eine Dorfbeiz war, vor meinem geistigen Auge. Ich muss gestehen, dass ich diese geschichtsträchtige Anlage noch nie besucht habe – das soll sich heute ändern.
Ein paar wenige Touristen fotografieren bereits die Gemäuer aus frühen Zeiten. Punkt zehn Uhr stehe ich vor dem wunderschönen Jugendstilhaus, das erhaben auf der kleinen Halbinsel neben der Bucht trohnt. Bruno Wüthrich öffnet die Türe und führt mich direkt auf die Terrasse: Dieser Ausblick verschlägt mir die Sprache. Ich konnte wirklich nichts mehr sagen, sondern genoss einfach für einen langen Moment das, was sich vor meinen Augen auftat: Berge, Hügel, kräftiges Grün und der glitzernde Thunersee in einem wundervollen Licht. Fast kitschig schön – wie ein Gemälde.
Wieder in der realen Welt angekommen, erinnere ich mich an den Grund, warum ich eigentlich nach Spiez gefahren bin: Um Bruno Wüthrich, einst Sternekoch und Koch-Olympiasieger, unter anderem
über das unbekannte «Okara» zu befragen.
Nein, das war bei mir kein Bubentraum. Ich wollte eigentlich immer Schlagzeuger werden. Mein Vater meinte aber, dass ich zuerst eine Lehre absolvieren sollte. Mein Cousin plante, Koch zu werden und änderte seinen Plan kurzfristig. Das war für mich wie ein Wink des Schicksals: Ich entschied mich, an seiner Stelle die Lehre anzutreten. Ich bin ganz ehrlich, wenn ich sage, dass ich in der ersten Zeit am
Kochen nicht so viel Freude hatte. Umso mehr spitzte ich die Ohren in der Gewerbeschule. Mich interessierten vor allem die Inhaltsstoffe, Vitamine und alles rund um Lebensmittel, wie auch die Ernährungslehre.
Das war eine grosse Herausforderung für mich – und auch ein harter, aber lehrreicher Weg. Ich durfte unter dem legendären Don Ernesto Schlegel, der damals im «Du Théâtre» in Bern wirkte, kochen. Später im Hotel Bellevue und dann im Hotel Schweizerhof, als Küchenchef in der Schultheissenstube. Als Chef de cuisine hatte ich alle Freiheiten: Ich bestellte Hummer, Austern und vieles mehr, weil das damals einfach angesagt war. Diese noblen Lebensmittel wurden eingeflogen und landeten, köstlich zubereitet, auf den Tellern der Gäste. Irgendwann schaute ich auf meine Wurzeln und realisierte als Emmentalerkind, dass wir um uns herum wunderbare Köstlichkeiten haben: zum Beispiel «Suurchabis». Vieles wird direkt vor unserer Haustüre angepflanzt und verarbeitet. Ich fing vermehrt
an, mit heimischen Nahrungsmitteln zu kochen – mit Erfolg.
Ja. Parallel zur Kochausbildung absolvierte ich die allgemeine Jazzschule. Ich spiele Schlagzeug. Musik und Kochen sind sich sehr ähnlich. Ich kann mich beim Kochen so ausdrücken wie beim Musizieren. Das löst bei mir ein grosses Glücksgefühl aus.
Vor etwa zwanzig Jahren fuhr ich nach Frutigen, weil ich für eine Kochkunstausstellung ein vegetarisches Gericht kreieren und Tofu kaufen wollte. Beim Hersteller (www.futur-natur.ch) schaute ich interessiert der Produktion zu. In einem Kessel war eine für mich undefinierbare Masse, die scheinbar bei der Produktion anfällt. Auf meine Frage, was mit diesem Kesselinhalt passiere, erklärte man mir, dass es eigentlich hochwertiger Abfall sei; aber höchstens im Winter den Kühen verfuttert und im Sommer Biogas daraus hergestellt werde.
Jahre später fuhr ich wieder nach Frutigen, um für ein neues Kochbuch rund um Tofu, Tempeh und Seitan einzukaufen. Und wieder standen dort die Kessel mit Okara. Nun wollte ich mehr erfahren: Ich schaute bei der Verarbeitung der Sojamasse genau zu und merkte, wie aufwendig dieser Prozess ist. Ganz entscheidend für mich aber war, dass für die Herstellung eines Kilogramms Tofu genau ein Kilogramm Okara anfällt; und dass es nach vielen Jahren immer noch als Abfall deklariert wird.
Ich nahm eine kleine Portion mit und kochte für meine Frau innerhalb einer Stunde vier Gerichte aus Okara. Meine Frau fragte mich interessiert: «Was hast du für mich gezaubert?» Meine Antwort war, schmunzelnd: «Du hast soeben Abfall gegessen.» «Das schmeckt so fein! Das wäre ein Thema für dein nächstes Kochbuch», war die Antwort meiner Frau. Das Kochbuch ist entstanden.
Das Kochbuch entstand sehr schnell. Ich liebe es, Menüs zu kreieren und mit viel Fantasie zu kochen. Dieser Prozess erinnert mich immer wieder ans Musizieren. Okara hat es mir sehr leicht gemacht: Innert kürzester Zeit hatte ich mehr als genug Rezepte im Kopf. Ich probierte alles aus und merkte, dass dieses verkannte Lebensmittel ein wahrer Allrounder ist: Vom Pastateig bis zum Sonntagszopf, über Salat zur Suppe, Terrine und vom Pancake bis zum Dessert ist alles machbar. Und das Schöne daran ist, dass es Menüs sind, die kein grosses Können voraussetzen. Auf hundert Seiten präsentieren sich im Buch «alles OKara» vierzig wunderbare Rezepte.
Alles OKara
Bruno Wüthrich, 2019
40 Rezepte, 100 Seiten
Fr. 30.90
ISBN 978-3-74942-272-2
Tofu, Tempeh und Seitan
Bruno Wüthrich, 2018
43 Rezepte, 94 Seiten
Fr. 30.90
ISBN 978-3-74811-951-7
Beide Bücher sind auch als E-Books erhältlich. Nur in deutscher Sprache erhältlich.
Das war und ist ein mühsamer Weg. Ich habe 350 Zeitschriften, Zeitungen, Radio- und Fernsehsender in Deutschland, Österreich und der Schweiz angeschrieben. Eine deutsche Zeitschrift hat Interesse bekundet. Und in der Radiosendung Espresso (SRF1) kam im Mai ein kurzer Bericht. Okara ist leider nicht – oder noch nicht – in aller Munde. Auch die Grossverteiler tun sich schwer. Wer kennt schon Okara? Absolut wichtig wäre, die Konsumentinnen und Konsumenten aufzuklären und ihnen dieses Juwel schmackhaft zu machen. So könnten alle einen wichtigen Beitrag gegen das Verschwenden von Lebensmitteln leisten. Das nährstoffreiche Nebenprodukt aus der Tofu-Herstellung ist geschmacksneutral und so vielseitig verwendbar wie kaum ein anderes Nahrungsmittel.
Ganz klar! Die Hersteller verdrängen ihr schlechtes Gewissen. Die Zahlen sprechen für sich: In der Schweiz fallen bei der Tofu-Produktion geschätzte 1000 Tonnen Okara pro Jahr an. Von den umliegenden, grösseren Ländern reden wir gar nicht. Dort sind es Abfallberge in anderen Dimensionen. Und diese Tonnen landen leider nicht auf unseren Tellern! Auch politisch werden solche Zahlen, die wirklich für sich sprechen, nicht erhört. Ich war im Bundeshaus und habe die UNO angeschrieben: Das Interesse war leider gleich Null.
Erfüllt verabschiede ich mich von Bruno Wüthrich. Das Leuchten in seinen Augen verriet mir, dass ihm Okara ein grosses Anliegen ist. Auf dem Weg in die Redaktion bin ich sicher, dass Okara in meiner Küche ebenfalls Einzug halten wird. Bruno Wüthrichs Begeisterung ist ansteckend!
Es gäbe noch viel mehr zu erzählen über Bruno Wüthrich, seine Passionen, seine Zeit als Sterne- und Störkoch, seine Liebe zur Musik, seine Freude, Gäste zu verwöhnen — und natürlich seine Begeisterung für Okara. Leider würde es diesen Rahmen sprengen.