14. Juni 2019

Zusammengewürfelt: Patchworkfamilie

Zusammengewürfelt: Patchworkfamilie
Lesezeit ca. 7 min

In der Schweiz wird ungefähr die Hälfte aller Ehen geschieden, in der Folge entstehen viele Patchworkfamilien. In ihnen müssen alle Beteiligten ihren neuen Platz innerhalb und ausserhalb finden; dies gelingt nicht immer.

Patchwork gelingt nicht immer

«Ich kam mir gelegentlich vor, wie wenn ich zwischen allen Stühlen sitzen würde», erinnert sich Andreas Rickenbacher (Name geändert). Er verliebte sich in eine geschiedene Frau mit zwei Söhnen im Pubertätsalter. «Mir war zu wenig bewusst, dass ich nicht nur eine Beziehung mit einer neuen Partnerin eingehe, sondern gleichzeitig auch mit deren Söhnen und der ganzen Verwandtschaft.» Mit etwas Galgenhumor fügt er an: «Die Situation war paradox: Als Pubertierende waren die Söhne daran, sich von der Mutter zu lösen. Ich meinerseits baute eine Beziehung zur Mutter und zu den Söhnen auf. Da drängten starke Kräfte in sehr unterschiedliche Richtungen.»

In ihrem pubertätsbedingten Rebellentum hätten sie ihre Mutter in ein Wechselbad der Gefühle gestürzt: «An manchen Tagen gingen sie einigermassen respektvoll mit ihr um, an anderen Tagen deckten sie sie mit Frechheiten ein. Die Mutter schien sich in einem Dilemma aus Fürsorglichkeit, Verständnis für ihre schwierige Lebensphase sowie Wut und Überforderung zu befinden.» Wenn die Beleidigungen der Söhne zu massiv wurden, habe er gelegentlich den Mund nicht mehr halten können, so Andreas Rickenbacher.

«Ich wollte ihnen Grenzen setzen. Doch dann hiess es von Seiten meiner Partnerin, ich solle mich raushalten, dies seien nicht meine Kinder.»
Andreas Rickenbacher (Name geändert)

Nach wenigen Monaten zerbrach die Beziehung zwischen Andreas Rickenbacher und seiner neuen Partnerin. «Ich habe meine Rolle in diesem Beziehungsgefüge nie gefunden. Im Nachhinein glaube ich, dass in dieser Familie noch einige, erhebliche Altlasten vorhanden waren.» Andreas Rickenbacher vermutet, der Ex-Mann habe nicht verwunden, dass sie sich von ihm getrennt hat: «Immer wieder stachelte er die Söhne gegen die Mutter auf, wohl um sich an ihr zu rächen.»

Stolperstein oder Bereicherung?

Wie anspruchsvoll das Zusammenwachsen der neuen Familie ist, wird laut Fachleuten häufig unterschätzt. Es geht dabei um unterschiedliche, intensive und teils widersprüchliche Gefühle – sie können zur grossen Herausforderung und zum Stolperstein werden.

Eine neue Lebensgemeinschaft kann allerdings auch für alle eine Bereicherung sein:

«Patchworkgemeinschaften gelten als eine Art 'Intensivtrainingscamps' für die Sozialkompetenz. Wer darin aufgewachsen ist, gilt als besonders flexibel und anpassungsfähig.»
Adrian Zeller

Ungefähr ein Fünftel aller Kinder lebt heute in «stieffamilienartigen» Gebilden.

Jede Familie ist anders

Während sich die einen Familien mit der neuen Situation leichter arrangieren, dauert der Prozess des Zusammenwachsens bei anderen länger. Ein Patentrezept gibt es nicht; Geduld und Toleranz sind auf alle Fälle unverzichtbar. Jede Familie ist in ihrem Gefüge, in ihren Werthaltungen und in ihrer Entwicklung einzigartig – entsprechend unterschiedlich sind auch die Voraussetzungen für eine neue Familienkonstellation.

Zusammengewürfelt: Patchworkfamilie

Während Buben laut Experten eher mit Konflikten auf die Kinder einer neuen Partnerin oder eines neuen Partners reagieren, ziehen sich Mädchen tendenziell zurück, grenzen sich ab und werden schweigsamer. Diese Haltungen sollten allerdings nicht pauschalisiert werden: Das Zusammenwachsen der neuen Familie kann auch ohne grosse Reibereien verlaufen.

Jede Patchworkfamilie hat eine Vorgeschichte; je besser diese aufgearbeitet und geregelt ist, desto unbelasteter kann der gemeinsame Neustart beginnen. Wenn die Mitglieder noch von Trauer, Schuldgefühlen und Vorwürfen erfüllt sind, kann es leicht passieren, dass es zu emotionalen Verwirrungen kommt.

Geduld und Toleranz sind gefragt

Jede Familie ist eine gewachsene Gemeinschaft, sie bedeutet Vertrautheit, Geborgenheit und Sicherheit. Man hat zusammen gestritten, gelacht, gespielt, ist einander in schwierigen Situationen beigestanden und kennt die Marotten und Spleens der anderen. Wenn mit einem Mal fremde Personen in diesen privaten Bereich einziehen, können Ängste, Revierkämpfe, Eifersüchteleien, Trotzverhalten sowie – unter Umständen – Feindseligkeiten die Folge sein. Wer gibt beispielsweise schon gerne seinen Sonderstatus als Nesthäkchen widerstandslos auf? Immerhin soll man künftig über Jahre im gleichen Haushalt zusammenleben.

Und unter Umständen bekommt die Mutter mit dem neuen Partner weitere Kinder. Manche Kinder empfinden die Hinzugekommenen als interessante Bereicherung, andere kämpfen erbittert um ihr Revier und Zuwendung. Sie achten peinlich genau darauf, wie der leibliche Vater, die leibliche Mutter mit den hinzugekommenen Kindern umgeht; sie wollen keinesfalls zu kurz kommen. Mütter und Väter wollen ihrerseits zu den Kindern des neuen Partners, der neuen Partnerin eine harmonische Vertrauensbeziehung aufbauen. Da ist viel Fingerspitzengefühl erforderlich, damit
es wenig Grund für Eifersüchteleien gibt.

«Einen Punkt gilt es unbedingt zu bedenken: In einer Patchworkfamilie haben sich die beiden Partner aus freien Stücken für eine gemeinsame Zukunft entschieden; ihre Kinder hatten diese Wahlmöglichkeit nicht.»
Adrian Zeller

Sie müssen sich mit einer Situation arrangieren, die sich nicht selber gewählt haben. Entsprechend schwer tun sie sich. Unter Umständen müssen sie an einem neuen Wohnort und in einer neuen Schule heimisch werden; die Kameraden von früher hinter sich lassen – dies braucht Zeit.

Vertrauen aufbauen braucht Zeit

Paar- und Familientherapeuten weisen darauf hin, dass manche Elternteile in einer Patchworkfamilie von der Annahme ausgehen, die neue Gemeinschaft sei sozusagen eine Fortsetzung der vorherigen. Doch dies ist ein tückisches Missverständnis: Jede Familie hat ihre ganz eigene Kultur und ihr eigenes
Beziehungsgeflecht, zu dem auch die Verwandten gehören, die einen fördernden oder einen störenden Einfluss ausüben können.

«Die neue Gemeinschaft ist kein unmittelbarer Ersatz für die gescheiterte erste; jede Patchworkfamilie ist etwas völlig Neues und muss erst schrittweise ihre Balance finden.»
Adrian Zeller

In dieser künftigen Gemeinschaft muss man sich anfänglich ausführlich beschnuppern können, Vertrauen aufbauen und seine eigene Position finden – dies stellt hohe Anforderungen. Ein erster gemeinsamer Ausflug ist eine gute Möglichkeit, um sich kennenzulernen; gemeinsame Ferien sind die Steigerung.

«Das komplexe Beziehungsgefüge muss sich sehr behutsam neu entwickeln können, damit es anschliessend trägt und nicht bei der ersten Krise zum Auseinanderbrechen kommt. Familientherapeuten rechnen dafür mit ein bis zwei Jahren.»
Adrian Zeller

Nüchtern betrachtet ist eine Patchworkfamilie eine zusammengewürfelte Gemeinschaft von Personen in verschiedenen Entwicklungsstadien, mit unterschiedlichen Bedürfnissen. Je besser es gelingt, diese unterschiedlichen Bedürfnisse zu erfüllen, desto stabiler ist die Lebensgemeinschaft. Gemäss Statistik gelingt dies nur der Hälfte aller Patchworkfamilien, die übrigen trennen sich wieder.

Aussen vor sein

Besonders anspruchsvoll ist die Situation für die jeweiligen Ex-Partner. Sie stehen ausserhalb des Familienverbandes, der sich neu entwickelt. Eventuell haben sie andere Erziehungsvorstellungen als die neue Frau oder der neue Mann, die oder der sich nun im Alltag um ihre Kinder kümmert. Es braucht viel Selbstdisziplin und Verantwortungsgefühl, um weder in heikle Intrigen verwickelt noch zum Spielball zu werden. Das Kindeswohl muss an oberster Stelle stehen. Unter Umständen kann die Begleitung durch eine Familienberatungsstelle oder eine ähnliche Institution das Arrangieren mit der neuen Beziehungssituation erleichtern und das verwirrte Gefühlsleben klären helfen.