Die Pensionierung ist ein bedeutender Übergang in ein völlig neues Leben. Das glückt nicht ganz allen gleich gut. Viel freie Zeit zu haben, kann auch tückisch sein!
«Ich freue mich riesig auf die Pension!» Diesen Satz hört man oft von Personen, die kurz vor der Pensionierung stehen. Und nicht selten glauben sie, dass dann nach der Pensionierung das grosse Glück beginnt. Endlich nicht mehr jeden Morgen aufstehen, endlich keinen Stress mehr mit anspruchsvoller Arbeit, endlich keine geschäftlichen Termine mehr, endlich viel, viel freie Zeit.
Doch wenn dann der Moment da ist, fallen einige in ein ziemliches Loch. «Was nun?», fragen sie sich. So auch Peter K.* Die Frage, wie er nun sein Leben gestalten möchte, kann er nicht wirklich beantworten. Ganz offenbar hat er sich noch nicht oder zumindest nicht ausreichend mit dem Thema befasst:
Ja und dann, wenn du ausgeschlafen bist? Was wirst du dann mit dieser vielen Freizeit anfangen? «Das weiss ich noch nicht, ich werde dann sehen, was auf mich zukommt.» Er plant, mehr zu reisen und viel Zeit im Garten zu verbringen. Aber wirklich überzeugend klingt das nicht. Die Frage, ob er dann auch im Winter im Garten beschäftigt sei, hört er nicht so gerne. Es sieht ganz so aus, als ob sich Peter K. noch nicht ernsthaft damit auseinandergesetzt hat, wie er nun seine Zeit verbringen und sinnvoll nutzen möchte.
Viele, die noch im Arbeitsprozess stehen denken, dass nach der Pensionierung alles gut sein werde. Oft aber stellen sie dann mit Schrecken fest, dass sie mit der Pensionierung nicht im Himmel gelandet sind. Ein endloser Urlaub ist nicht ganz so schön wie der bisher erlebte mit seinem Enddatum. Der Mensch ist offenbar nicht dafür geschaffen, seine ganze Zeit in einer Hängematte zu verbringen. Das hat die Altersforschung schon längst erkannt. Es gibt nicht wenige Pensionierte, die sich mehr oder weniger lustlos durch den Tag hangeln. Ein wenig Kaffee trinken, ein wenig Zeitung lesen, vielleicht ein paar Schritte spazieren und dann viel Zeit vor dem Fernseher verbringen.
Ganz glücklich werden diese Menschen allerdings nicht.
Die Glücksforschung übrigens hat schon längst erkannt, dass nicht in erster Linie Geld glücklich macht, auch nicht der Besitz von unzähligen Luxusgütern; sondern dass der Mensch vor allem dann glücklich ist, wenn er in seinem Dasein einen Sinn sieht.
Ganz anders sieht es bei Urs R.* aus. Er ist nun seit drei Jahren pensioniert, doch den ganzen Tag in einer Hängematte zu liegen, vermag er nicht. Er hat sich bereits vor seiner Pensionierung Gedanken gemacht über diese Zeit; und damals schon festgestellt, dass ständiges Nichtstun ihm gar nicht guttun würde. Und dann hat er vorgesorgt: Für diverse Institutionen und Firmen erledigt er regelmässig kleinere Aufträge. Keine allzu schwierigen Aufgaben sollen es sein, aber wichtige und nützliche Aufgaben. «Ich arbeite etwa sechs bis acht Stunden pro Woche», sagt er dazu, «und das macht mir wirklich Freude.» Er meint, dass er damit immer noch regelmässig Kontakt habe mit verschiedenen Menschen, dass er das Gefühl habe, gebraucht zu werden und seine vielfältigen Fähigkeiten sinnvoll nützen könne.
Er hat sich so organisiert, dass er schon längst keinen Wecker mehr braucht («das empfinde ich als Luxus, nachdem ich über 40 Jahre lang immer früh aufstehen musste»), seine Jobs kann er nachmittags oder abends erledigen. Und ihm bleibt dabei immer noch sehr viel freie Zeit. «Doch das ist manchmal auch nicht ganz so einfach, wie es scheint», meint er dazu. Er müsse sich täglich selbst motivieren, er müsse seine Zeit selbst organisieren und sich selbst strukturieren. «Manchmal stehe ich am Morgen auf und überlege mir, was ich jetzt tun soll. Soll ich eine anstehende Arbeit erledigen oder soll ich damit bis morgen warten?» Früher sei immer alles klar gewesen, er hätte um halb acht Uhr im Büro sein müssen, die Tage seien durch und durch organisiert und strukturiert gewesen. «Und jetzt muss ich mir diese Struktur täglich selber geben, was nicht immer einfach ist.»
Und trotzdem: Alles in allem sei er mit seinen Lebensumständen im Moment absolut zufrieden: «Ich habe noch diese und jene Aufgabe, ich bin in Kontakt mit vielen Menschen, ich habe genug Geld und immer noch genug freie Zeit.» Diese freie Zeit verbringt er mit Wanderungen, mit Musizieren und mit Besuchen bei seinen Kindern und Enkeln.
«Carpe diem, quam minimum credula postero» (nutze den Tag und vertraue möglichst wenig auf den folgenden). Das sagte der römische Dichter Horaz (65-8 v. Chr.). Das heisst nichts anderes, als die gegebene Lebenszeit sinnvoll zu verwenden. Und das gilt ganz besonders für Personen, welche aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden sind und über sehr viel Zeit verfügen. Tun wir das denn auch? Und was bedeutet es konkret, die Lebenszeit sinnvoll zu nutzen?
Sinnvoll erscheint uns eine Tätigkeit, wenn wir mit ihr irgendetwas Bestimmtes erreichen. Was sinnvoll ist, kann wohl kaum allgemein definiert werden, das scheint eine sehr individuelle Angelegenheit zu sein. Enkelkinder hüten, einen Garten pflegen, kranke Freunde besuchen, sich in einem Verein engagieren, Gedichte schreiben, Musik machen, Freiwilligenarbeit leisten. Es gibt unzählige Möglichkeiten. «Gewöhnliche Menschen überlegen nur, wie sie ihre Zeit verbringen. Ein intelligenter Mensch versucht, sie auszunützen», sagte der Philosoph Arthur Schopenhauer.
Die Zeit sinnvoll zu nutzen könnte übrigens auch heissen, sich seiner persönlichen Entwicklung zu widmen, persönlich zu wachsen und voranzukommen. Die Entwicklung eines Menschen dauert bekanntlich ein ganzes Leben lang. Auch Urs R. hat sich damit befasst. Und er sagt dazu Folgendes: «Ich achte bei allen meinen Tätigkeiten und Entscheidungen darauf, ob dabei auch eine persönliche Entwicklung möglich ist. Und wenn dem so ist, dann nehme ich diese Möglichkeit wahr.»
«Kürzlich habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Kuchen gebacken», sagt er voller Freude und auch mit ein wenig Stolz. Der Kuchen sei zwar nicht perfekt geworden, aber trotzdem essbar. Und vor 20 Jahren hätte er sich absolut nicht vorstellen können, jemals im Leben einen Kuchen zu backen. «Der Weg ist das Ziel», sagte Konfuzius, «in jeder Sekunde, in der du dich mit deinem persönlichen Wachstum beschäftigst, wächst du. Jede Erkenntnis, die du gewinnst, ist auch eine Grundlage für weitere Erkenntnisse!»
Seit einem Jahr ist auch Helene J.* pensioniert. Sie sagt, dass sei die beste Zeit ihres bisherigen Lebens:
Helene J. verbringt ihre Zeit mit Büchern (vor allem Philosophisches), mit der Pflege ihrer Eltern, mit der Pflege von Freundschaften («das kam doch immer zu kurz während meiner Berufszeit»), mit sportlichen Tätigkeiten, mit Wandern und mit der Pflege ihres grossen Blumengartens. «Ich war noch nie so glücklich wie jetzt.» Und wie es scheint, geniesst Helene J. ihre Zeit nicht nur, sie nützt sie auch!