25. Juli 2019

Positiv denken – aber wie?

Positiv denken – aber wie?
Lesezeit ca. 8 min

Das positive Denken kann durchaus seine Tücken haben. Warum klappt das nicht immer?

Hype: positives Denken

In Buchhandlungen sind die Gestelle voll mit Büchern zum Thema «positives Denken»; und sie verkaufen sich gut. Es gibt sogar Bücher mit Anleitungen, wie man beim Universum ganz einfach etwas bestellen kann – und wenn man dabei positiv denkt, soll einem das Universum nach einer gewissen Lieferfrist das Gewünschte senden. Also alles ganz einfach …

Die Realität sieht aber ziemlich anders aus: Obschon viele Menschen krampfhaft positiv denken, täglich solche Bücher lesen, am Schrank, Nachttisch und Badezimmerspiegel kleine Zettelchen hängen haben mit sogenannten «Affirmationen» (wie zum Beispiel «ich bin ein erfolgreicher Sänger»), klappt es dann oft doch nicht mit den gewünschten Ergebnissen.

Frust statt Positivität

Und irgendwann mündet dieses positive Denken in eine fürchterliche Frustration; und man stellt sich die Frage, ob denn die Theorie des positiven Denkens überhaupt stimme. Oder noch schlimmer: Es keimt allmählich ein Gefühl des Versagens auf, «ich bin nicht einmal fähig, positiv zu denken, ich bin ein Versager».

«Es gibt sogar Fälle, in denen Menschen in eine Depression gefallen sind, nachdem sie sich monatelang mit dem Thema 'positiv Denken' befasst, es angewendet haben – und schliesslich doch gescheitert sind.»
Albin Rohrer

Woran kann das liegen?

Grenzen des positiven Denkens

Die Tatsache, dass positives Denken nicht immer und auch nicht bei allen Menschen eine Wirkung erzeugt, muss doch einen Grund haben. Oder genauer gesagt: Es hat mehrere Gründe.

1. Nur einer kann gewinnen

Nehmen wir das Beispiel der Skirennfahrer. Viele Spitzensportler bereiten sich nicht nur körperlich, sondern auch mental auf ein Rennen vor, so auch die Skirennfahrer, zum Beispiel vor der Lauberhornabfahrt. Nehmen wir einmal an, zehn Abfahrer denken positiv und stellen sich vor, wie sie das Rennen gewinnen werden. Sie trainieren gut, sind fit und voller Zuversicht. Und obschon alle zehn sich gedanklich intensiv mit dem Sieg auseinandergesetzt haben, gewinnt am Schluss halt doch nur einer. Die anderen neun haben den Sieg – trotz positivem Denken – verpasst. Eigentlich haben sie ja nichts falsch gemacht; doch es liegt in der Natur der Sache, dass bei einem Rennen nur einer gewinnen kann, selbst wenn die Abstände nur Hundertstelsekunden betragen und für die Zuschauer gar nicht sichtbar sind.

Positiv denken – aber wie?

So hat das positive Denken seine Grenzen. Anders sieht es aus, wenn sich ein Fahrer vorstellt, dass er einfach ein sehr gutes Rennen fährt: Denn auch ein fünfter Platz mit nur wenig Rückstand ist doch ein sehr gutes Ergebnis.

2. Etwas erzwingen wollen

Ein weiterer Grund, weshalb das positive Denken fehlschlagen kann, ist das «Erzwingen wollen». Im Leben kann man grundsätzlich nichts erzwingen. Das ist in diversen Fernsehsendungen gut ersichtlich, wo vorwiegend junge Menschen an einem Wettbewerb teilnehmen, um ein grosser Popstar oder ein umworbenes Model zu werden – das klappt bei den Wenigsten. Der Grund dafür ist einfach: Oft fehlt die wahre Leidenschaft und Freude an der Sache. Der Erfolg steht im Mittelpunkt, man will es unbedingt schaffen, um berühmt, beliebt und reich zu werden. Und dabei geht die eigentliche Sache – zum Beispiel die Musik – vergessen.

Ein tolles Vorbild dafür, wie man es machen sollte, sind die Beatles. Sie gehören zu den absolut erfolgreichsten Bands in der Popmusik. Und was war ihr Geheimnis? Als sie in den Sechzigerjahren ihre Karriere starteten, ging es ihnen nicht um den Erfolg; es ging ihnen um die Musik. John Lennon hat einmal gesagt, dass sie einfach vier gute Freunde waren und dass sie unglaubliche Freude an der Musik gehabt hätten. Sie spielten und sie sangen mit einer riesigen Leidenschaft, ohne krampfhaft einen bestimmten Erfolg erzielen zu wollen – dieser stellte sich dann ganz automatisch ein. Und weshalb? Die Freude und die Leidenschaft waren bei den Beatles in fast jedem Takt hörbar und spürbar; und das hat dem Publikum gefallen.

Natürlich waren alle vier musikalisch sehr begabt, sonst wären diese Erfolge auch nicht möglich gewesen. Eine gewisse Begabung ist unumgänglich, um Erfolg haben zu können: Man kann kein erfolgreicher Sänger werden, wenn man nur über ein minimales Musikgehör verfügt und die falschen Töne nicht von den richtigen unterscheiden kann. Andererseits kann auch nicht jeder Weltmeister im Kugelstossen werden, ganz einfach deshalb, weil die körperlichen Voraussetzungen fehlen. Dann nützt alles positive Denken rein gar nichts.

3. Was gehört zu mir?

Der Hauptgrund aber, weshalb sich bei vielen Menschen Erfolge trotz positivem Denken nicht einstellen, ist die Tatsache, dass sie sich unrealistische Ziele setzen. Also Ziele oder Ideen, die gar nicht zu ihnen passen, die ihrem Wesen und ihrer Persönlichkeit nicht entsprechen – und deshalb trotz positivem Denken einfach nicht erreichbar sind. Dazu können wir einen Vergleich mit der Natur ziehen. Eine Rose ist eine Rose und keine Eiche: Das Wesen einer Rose ist es, eine kleine, zarte, farbenfrohe Pflanze mit Stacheln zu sein – und kein grosser, kräftiger, starker Baum. Eine Rose kann also niemals eine Eiche werden; genauso, wie eine Maus niemals ein Elefant sein kann oder eine Amsel kein Adler. Tiere und Pflanzen quälen sich aber glücklicherweise nicht mit positivem Denken durch das Leben, sie sind einfach das, was sie sind.

Bezogen auf den Menschen heisst das Folgendes:

«Wenn wir erfolgreich sein wollen – und damit auch zufrieden oder sogar glücklich, das ist ja das eigentliche Ziel des positiven Denkens –, dann sollten wir als erstes erkennen, was wirklich zu uns passt.»
Albin Rohrer

Was entspricht unserem Wesen, unseren Fähigkeiten, unserer Persönlichkeit? Statt irgendjemandem nacheifern zu wollen, sollten zuerst diese Fragen geklärt werden. Nicht jeder hat die Begabung zum Skirennfahrer, Schauspieler, Sänger, Arzt oder Geschäftsmann. So lauten also die Fragen: Was gehört zu mir? Was liegt mir? Was entspricht mir? Es geht darum zu erkennen, wo meine Talente, meine Fähigkeiten und meine Kompetenzen liegen. Damit sollten wir uns dann intensiv befassen. Nicht aber mit dem vordringlichen Ziel, Erfolg zu haben, sondern aus reiner Freude und mit Leidenschaft.

Positiv denken – aber wie?

Bestellung beim Universum

Man mag daran glauben oder nicht, aber wahrscheinlich ist es eben doch so, dass es so etwas wie universelle oder kosmische Gesetze gibt. Man könnte, sofern man religiös ist, auch von «göttlichen Gesetzen» reden. Die Idee, beim Universum etwas zu bestellen, ist also grundsätzlich gar nicht so falsch. Nur:

«Man kann beim Universum nicht einfach irgendetwas bestellen, sondern wahrscheinlich nur das, was aus universeller oder kosmischer Sicht auch wirklich zu einem gehört; dann kann es gut sein, dass es mit der Bestellung klappt.»
Albin Rohrer

Geschieht dies aber aus reiner Selbstsucht oder mit dem Ziel, unter allen Umständen besser, schöner oder reicher sein zu wollen als alle anderen, dann könnte es schon sein, dass das Universum die Bestellung ablehnt. Geschieht es hingegen im Gedanken, das zu bestellen, was für einem das Wesentliche, das Passende und das Richtige ist – und was auch wirklich zu einem gehört –, dann ist die Chance gross, dass die Bestellung auch eintrifft.

Die Welt braucht Ärzte, Handwerker, Bauern, Sänger, Schauspieler; sie braucht kräftige Menschen, intelligente Menschen, hilfsbereite Menschen; sie braucht Pflegerinnen, Schriftsteller und Musiker genauso wie Richter, Anwälte oder Psychotherapeuten. Die Frage ist: Was gehört zu mir? Was ist – aus universeller Sicht – meine Aufgabe? Wenn ich das richtig spüre, bin ich auf dem richtigen Weg; und der Erfolg wird sich früher oder später einstellen.

So bleibt wohl nur noch eine Frage: Wie finde ich heraus, was wirklich zu mir passt? Sicher nicht in einer lauten Disco, im Getümmel eines Warenhauses oder im Internet; viel eher ist die Antwort darauf – auch wenn das etwas altmodisch klingt – in der Ruhe und in der Stille zu finden.