15. Januar 2021

Reizüberflutung: Schönes verinnerlichen

Reizüberflutung: Schönes verinnerlichen
Lesezeit ca. 8 min

Die Flut an Reizen im Alltag wird immer grösser, dies untergräbt die Lebensqualität. Wie kann man auf diese ständige Berieselung angemessen reagieren?

Alltagstempo nimmt zu

Um 1850 breitete sich in Europa die Eisenbahn aus. Die ersten Züge erreichten eine Geschwindigkeit von rund 30 Stundenkilometern. Viele Menschen machten sich damals grosse Sorgen: Dieses Tempo sei sehr schädlich für die Gesundheit, fürchteten sie. Bis anhin waren Postkutschen die schnellsten Verkehrsmittel. Tatsächlich nahmen damals nervöse Leiden zu. Seither hat sich das Leben ganz allgemein massiv beschleunigt, so ist beispielweise ein TGV-Zug mit 300 Kilometern in der Stunde unterwegs. Die Reisegeschwindigkeit ist nur ein Beispiel unter vielen, wie sehr in den letzten Jahren das Tempo im Alltag zugenommen hat.

So waren etwa Luftpostbriefe gestern, heute flitzen die elektronischen Nachrichten blitzschnell von Kontinent zu Kontinent. Der weltweite Anstieg an E-Mails beträgt laut Untersuchungen fünf Prozent pro Jahr. Sie verlangen viel Aufmerksamkeit. Gemäss Studien werden die Mailboxen im Durchschnitt bis zu 40 Mal am Tag aufgerufen. Hinzu kommen all die Mitteilungen per SMS, WhatsApp und weiteren sozialen Netzwerken, die nach Beachtung heischen. In der modernen Gesellschaft wird ein erheblicher Teil der Zeit nicht mehr für den Austausch von nötigen Informationen, sondern zur Abwehr von unerwünschtem Infoballast verwendet, sagen Experten.

Reizüberflutung: Schönes verinnerlichen

Überreiztes Gehirn, verzettelter Geist

Wie Forscher festgestellt haben, braucht das Gehirn nach jeder digitalen Unterbrechung zwei bis drei Minuten, um die Konzentration auf die vorherige Tätigkeit neu aufzubauen. Bei mehreren gleichzeitigen Aktivitäten springt das Gehirn hin und her, rasch hat man deshalb «den Faden verloren». Wie Studien belegen, steigt dadurch die Fehlerquote: Aufmerksamkeit lässt sich nicht beliebig teilen.

Wie Ernst Pöppel, Hirnforscher an der Universität München, nachgewiesen hat, kommt das Gehirn bei hoher Informationsdichte an seine Grenzen. Die digitalen Medien fordern das Nervensystem auf eine sehr einseitige Weise. Sie erzeugen Aufmerksamkeit, oft ohne, dass diese vertieft werden kann. Um einen Gegenstand oder eine Situation zu erfassen, sind verschiedene Sinneseindrücke nötig. Auf diese Weise kann sie das Gehirn besser speichern.

Ein einfaches Beispiel: Frisches Brot verströmt einen angenehmen Duft, es sieht appetitlich aus, beim Schneiden erzeugt es ein knusperndes Geräusch und beim Kauen vermittelt es den typischen Geschmack von frischem Brot. Während man sich noch länger an den entsprechenden Geruch und Geschmack erinnern kann, ist die lustige WhatsApp-Nachricht von letzter Woche bereits vergessen. Die sinnliche Erfahrung fehlt bei den Online-Medien, deshalb sind sie sehr flüchtig.

«Das Gehirn benötigt eine gewisse Zeit, um die Eindrücke einzuordnen und sich eine Meinung dazu zu bilden. Überschreiten die eintreffenden Reize ein gewisses Tempo, steigt der Stresslevel, der Geist wirkt zerstreut oder gar verwirrt. Angesichts der Flut an Bildern wirkt das Gehirn gelegentlich überreizt.»
Adrian Zeller

Es erstaunt kaum, dass in einer international durchgeführten Studie 46 Prozent der Befragten angaben, sie würden sich ständig unter Zeitdruck fühlen.

Natürliche Stressreaktionen

Elektronische Medien mit ihren schnellen Reizen versetzen das Gehirn in eine Dauererregung. Die Natur hat das Gehirn so konstruiert, dass es besonders sensibel auf mögliche Gefahren reagiert. Auf diese Weise soll der Mensch Risiken frühzeitig erkennen können. In ihrer Frühzeit waren Menschen oft in Gefahr: Steppenfeuer, Raubtiere, Gerölllawinen und vieles mehr bedrohten sie. Ständig mussten sie zur Flucht oder zum Kampf bereit sein.

Das Gehirn räumt dem frühzeitigen Erkennen von Gefahren und dem Überleben höchste Priorität ein. Erhöhte Schreckhaftigkeit ist beispielsweise Zeichen einer erhöhten Grundanspannung. Heute lauern vergleichsweise wenig lebensbedrohliche Gefahren. Gleichwohl beginnt in manchen Situationen das Herz zu rasen, die Bauchorgane verkrampfen sich und die Atemzüge werden kurz und oberflächlich, kurz: Stress. Stressreaktionen sind nicht nur körperlich unangenehm; wenn sie häufig auftreten, mindern sie die Lebensqualität.

Mit allen Sinnen wahrnehmen

Zudem verändern sie vorübergehend die Gehirntätigkeit, Besonnenheit fällt unter dem Einfluss von Stress schwerer. Wer sich häufig ängstlich und angespannt fühlt, kommt selten in den entspannten Zustand der Musse, die für den Lebensgenuss entscheidend ist. Angenehme Erfahrungen — wie beispielsweise der Duft einer Rose, der Morgentau auf einer Blüte oder herbstlich verfärbte Blätter — werden vom Gehirn vor allem dann intensiv registriert, wenn man sich ihnen bewusst zuwendet. Kleinkinder sind hierfür gute Vorbilder. Sie schenken jedem Käfer und jedem Schmetterling die volle Aufmerksamkeit. Als erwachsene Person sollte man ab und zu die Natur wieder mit den Augen eines Kleinkindes betrachten: Das Wogen eines Weizenfeldes im Wind, das Brummen einer Hummel in einer Blüte oder das Spiel des Sonnenlichtes in den Blättern der Waldbäume sind faszinierende Schauspiele. Ein flüchtiges Foto mit der Handykamera ist ein schwacher Ersatz für ein detailliertes Betrachten von Naturschönheiten.

Reizüberflutung: Schönes verinnerlichen

Solche bezaubernde Sinneseindrücke sind ein wirkungsvolles Gegenmittel gegen das vorher erwähnte überreizte Nervenkostüm: Sie stärken das Gemüt. So wie man bei der Ernährung eine bewusste Auswahl trifft, sollte man auch dem Geist vor allem Nährendes und Stärkendes zuführen, dazu zählen Bilder aus der Natur. Oft braucht es etwas Übung, um den Geist vom Alltagsmodus in die volle Aufmerksamkeit für eine schöne Situation in der Natur umzuschalten.

Um nicht ständig über seinem Leistungslimit funktionieren zu müssen, schützt sich das Gehirn selber und akzeptiert mit der Zeit nur noch Reize einer gewissen Intensität. Beim Durchschnitt der Bevölkerung hat innerhalb der letzten 15 Jahre gemäss Forschung das Differenzierungsvermögen von Klängen von 300 000 auf 180 000 nachgelassen. Vor rund drei Jahrzehnten wurde Lärm ab 100 Dezibel als quälend empfunden — heute liegt die Schmerzgrenze bei 120 Dezibel.

In die Natur eintauchen

Um optisch ganz in die Natur einzutauchen und sich Momente der Musse zu gönnen, nimmt man sich am besten einige Minuten Zeit und lässt seinen Blick beispielsweise über ein Waldstück schweifen. Dabei versucht man, alle Farbnuancen zu erkennen. Allein die Grüntöne lassen sich mit Dutzenden von Wörtern bezeichnen, da gibt es etwa schilfgrün, efeu-grün, moosgrün, braungrün oder pistaziengrün.

Auch ein Rosengarten, ein Seerosenteich, ein Bergpanorama, eine Waldlichtung, ein Bachlauf und weitere idyllische Szenerien sind Orte, die man mit den Sinnen intensiv geniessen und in sich aufnehmen sollte. Die Bilder werden mit dem geistigen Auge ähnlich einer Fotokamera sehr detailliert registriert.

Gegen Stress und Innere Leere

Wie die neuere Hirnforschung zeigt, wirkt das Verinnerlichen von angenehmen Sinneseindrücken als Dämpfer gegen Stress und gegen Verstimmungen. Sie werden ins emotionale Gedächtnis aufgenommen, das für die Stimmungslage und für die Einstellung zum Leben entscheidend ist.

Ab und zu sollte man die Natur tatsächlich wieder aus der Perspektive eines Kindes erforschen; man erkennt dabei Dinge, die man erst auf den zweiten Blick wahrnimmt.

Laut Hirnforschern führen Routinewahrnehmungen und -handlungen dazu, dass bestimmte Verbindungen zwischen den Nervenzellen besonders dominant werden. Damit wird das Gehirn wenig gefordert. Auf diese Weise entsteht der Eindruck von innerer Leere.

Es werden kaum mehr Erfahrungen gemacht, die tatsächlich berühren. Als Folge davon wirkt das eigene Leben arm an Inhalten und an Spannung. Es wird zum grauen Alltagstrott. Oft sind es weniger die lauten, als vielmehr die «stillen» Erlebnisse, die dem Leben Tiefe geben.