Schatten der Karriereleiter
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Ein Aufstieg im Beruf, im Verein oder in einer Behörde bedeutet einen Zugewinn an Prestige und an Einflussmöglichkeiten. Doch die Kehrseite der Medaille kann sich im Privatleben zeigen.

Neue Rollenmodelle?

So hatte sich Marianne Grossenbacher ihren dritten Lebensabschnitt nicht vorgestellt. Die alleinstehende Büroangestellte freute sich darauf, nach ihrer Pensionierung zu reisen und etwas von der Welt zu sehen. Während eines Mittagessens bei der Familie ihres Soh­nes eröffnete ihr die Schwiegertochter jedoch, dass sie künftig mit ihr als Tagesmutter für die Enkelkinder rechne. Die Schwiegertochter war seit ein paar Jahren stundenweise als Mitarbeiterin in einem Treuhandbüro tätig. Gelegentlich besuchte sie zusätzlich Weiter­bildungskurse. Ihr Plan: Nach der Pensionie­rung sollte sich ihre Schwiegermutter vermehrt um die Enkelkinder kümmern. Damit wäre für sie selbst die Tür als Teilhaberin in der Treu­handfirma offen.

Über ihr Vorhaben hatte sie mit Marianne Grossenbacher nie zuvor gesprochen. Daher fiel diese aus allen Wolken, als sie vom ge­planten täglichen Einsatz für die Enkelkinder erfuhr. Empört wehrte sie sich dagegen, dass man ungefragt über sie verfügen wollte. Die Schwiegertochter brach in Tränen aus, die Schwiegermutter würde ihre Zukunftsaussich­ten zerstören. Die letzten Jahre habe sie sich gezielt weitergebildet und entsprechend Geld investiert. Auch der Sohn zeigte kein Ver­ständnis für die Absage. Die Mutter hätte doch im Ruhestand genügend Zeit, sich um ihre ge­liebten Enkelkinder zu kümmern. Reisen könne sie später, wenn diese grösser seien und sie sie weniger benötigten. Als sich auch ihr Sohn auf die Seite seiner Frau stellte, packte Marianne Grossenbacher ihre Sachen und verliess die Wohnung der Familie, ohne sich zu verabschieden.

In den typischen Rollenmodellen der Vergan­genheit erklomm der Mann die Karriereleiter, während die Frau ihm zu Hause den Rücken freihielt.

«Mit der Emanzipation hat sich in den letzten beiden Generationen vieles verändert: Die Entwicklungschancen von Frauen in Be­ruf und Politik haben sich deutlich verbessert.»
Adrian Zeller
Schatten der Karriereleiter

Trügerische Vorbilder

Wo neue gesellschaftliche Wege beschritten werden, braucht es Vorbilder zur Orientierung. In den Illustrierten lassen sich einige Stars aus dem Film­ und Showbusiness gern mit ihren Kindern ablichten. Dabei sehen sie sehr gepflegt aus, lächeln entspannt und prä­sentieren eine top Figur. Solche Fotos würden heikle gesellschaftliche Standards setzen, warnen Psychologinnen und Psychologen: Sie weckten verzerrte Erwartungen und Vor­stellungen. Niemand weiss, wie diese Stars Zeit finden, sich um die Betreuung und Erzie­hung der Kinder zu kümmern, ihre Garderobe und ihre Figur attraktiv zu halten, die Karrie­releiter zu erklimmen – und dabei glücklich strahlend vor der Kamera zu posieren. Ohne Kindermädchen, Haushaltshilfen, PR-­Agen­tinnen oder persönliche Fitnesstrainer ist ein solcher Alltag kaum zu meistern. Die Hel­fer*innen im Hintergrund tauchen jedoch kaum je auf einem Foto auf.

Für viele Familien ohne Prominentenstatus sieht die Alltagsrea­lität deutlich anders aus: Die Kosten für eine Tagesmutter oder für einen Platz in einer Kindertagesstätte strapazieren das Budget bis ans Limit – oder gar darüber hinaus.

Ein Aufstieg kostet Zeit

Eine Untersuchung zeigte: In Partnerschaften, in denen eine oder beide Personen Karriere machen, wird zu wenig miteinander gespro­chen. Ohne sorgfältige Aufteilung der Aufgaben und Verantwortlichkeiten sind Spannungen und Frustrationen vorprogrammiert. Nicht alle Menschen sind sich im Voraus der Begleit­erscheinungen einer Karriere bewusst. Ins­besondere bedeuten diese eine erhöhte zeit­liche Belastung für die rein berufliche Tätig­keit; aber auch für Weiterbildungen. Ab der Hierarchiestufe des mittleren Kaders wird das Leisten von Überstunden erwartet – auf ge­regelte Arbeitszeiten kann man nicht vertrau­en. In manchen Positionen wird zudem häufi­ges Reisen vorausgesetzt. Weiter muss auch Zeit für die Pflege des beruflichen Netzwerks eingeplant werden – in Kaderpositionen ist dies unverzichtbar.

Verschiedene Wege zum Aufstieg

Karriere im Beruf lässt sich auf verschiedene Weise machen, die verbreitetste ist eine Stellung als Vorgesetzte oder als Vorgesetz­ter. Aber auch Spezialisierungen bedeuten oft einen Aufstieg: Wer sich besondere Fach­kenntnisse aneignet, wird zur gefragten Per­son mit Expertise. Ähnlich wie eine Beförde­rung wirkt sich der Schritt in die berufliche Selbständigkeit aus. Und auch in politischen Ämtern sowie in Vereinen und Verbänden kann man eine höhere Position erreichen. Wer für eine Kandidatur in einem Vorstand oder für ein Behördenamt angefragt wird, fühlt sich meist geehrt. Diese Freude über die Anfrage kann zu einem zu raschen, wenig durchdach­ten Entscheid führen.

Karriere bedeutet Verzicht

Ein höherer Platz in der Hierarchie bringt allerdings nicht nur mehr Ansehen, mehr Ein­fluss sowie ein höheres Salär mit sich. Er bedeutet oft auch Verzicht auf die Zeit mit den Angehörigen. Statt am Familientisch sitzt man häufig am Sitzungstisch.

«Wer vor der Entscheidung für die nächste Sprosse auf der Karriereleiter steht, sollte sich umfassend über die Auswirkungen auf das Pri­vatleben informieren. Die Konsequenzen werden oft unterschätzt.»
Adrian Zeller

Kommen private Schwierigkeiten hinzu, können die zeitliche und mentale Belastung zusätzlich massiv ansteigen – beispielsweise, wenn betagte El­tern mehr Betreuung benötigen oder wenn die Partnerschaft in eine Krise gerät. Gesprä­che mit Personen, die diesen Karriereschritt schon gemacht haben, sind dabei sehr infor­mativ. Ob im Beruf, in der Politik oder im Ver­ein:

«Ein Karriereschritt wirkt sich auch auf die Menschen im persönlichen Umfeld aus. Diese müssen mitentscheiden, ob sie die Verände­rungen in Familie und Partnerschaft mittra­gen können und wollen.»
Adrian Zeller
Schatten der Karriereleiter

Mentale und familiäre Belastungen

Laufbahnberatungen weisen darauf hin, dass berufliche Zusatzausbildungen sowie beson­ders anspruchsvolle berufliche Tätigkeiten auf Dauer nur erfolgreich gemeistert werden, wenn die Partnerin oder der Partner das Vor­haben unterstützt und in die Planung ein­bezogen wird. Laut Umfragen wollen längst nicht alle Männer zugunsten ihrer Partnerin bei der eigenen Karriere zurückstecken. Eine frühzeitige Absprache der beidseitigen Pläne beugt Konflikten vor.

«Gemäss Statistik sind es trotz Emanzipation noch immer 75 Prozent der Frauen, die den Hauptteil der Arbeit im Haushalt verrichten. Nur 18 Prozent der Eltern­paare geben an, diese Tätigkeiten gemeinsam zu erledigen.»
Adrian Zeller
Schatten der Karriereleiter

In einer repräsentativen Unter­suchung gaben 29 Prozent der Männer an, zu spüren, wenn ihre Partnerin unter erhöh­tem beruflichem Stress stehe. Bei den Frauen merken 35 Prozent, dass ihr Partner eine erhöhte Belastung zu tragen hat. Jede dritte Frau und jeder dritte Mann gaben an, der Stress wirke sich negativ auf die Partnerschaft aus. Dass sie für das Unternehmen auch in der Freizeit erreichbar sein müssen, wurde als besonders belastend erwähnt. Auswirkungen spüren teilweise auch die Kinder. Sie wün­schen sich laut einer Umfrage, dass sich Müt­ter und Väter mehr Zeit nähmen, um mit ihnen über ihre Sorgen und Nöte zu sprechen.