21. Januar 2019

Der innere Richter

Der innere Richter
Lesezeit ca. 7 min

Das schlechte Gewissen ist etwas Gutes, weil es uns den Spiegel vorhält. Allerdings ist es etwas Schlechtes, wenn uns Schuldgefühle neurotisch quälen. Aber auch das hat sein Gutes: weil man sich befreien kann.

Gewissensbisse

«Wir sind am Rotieren», las ich auf dem Display meines Handys. Ob ich am frühen Samstagmorgen zu zwei kleinen Helden schauen würde? Ich hatte viel Lust aufs Ausschlafen – aber keinen ersichtlichen Grund zum Absagen. Aber ich fühlte mich als Götti des einen Buben in der Pflicht, den Freund zu unterstützen. Nach langem Ringen sagte ich ab – mit einem schlechten Gewissen.

Dieses plagt die meisten auch, wenn die emotional aufgeladene Vase aus Meissner Porzellan zersplittert. Oder wenn man ein Versprechen nicht einlöst, die Frist für ein Konzept im Büro abgelaufen ist, man seine schlechte Laune an anderen auslässt und zu viel Süsses futtert. Und erst das klapprige Auto, das man einem Gutgläubigen überteuert verkauft hat. Ganz zu schweigen von der Affäre, die vor dem Partner geheim gehalten wird.

Gründe für Gewissensbisse gibt es tagaus, tagein. Das fühlt sich wortwörtlich so an: Das Gewissen beisst zu. Mal sanft, aber hart­näckig wie die Katze, die Aufmerksamkeit einfordert; hie und da harsch wie ein Hund, der seine Zähne in die Wade eines Einbrechers bohrt.

Unbekümmert spielen

Im Wort Gewissen steckt bereits der Grund, weshalb es uns so zusetzt: Wir haben ein inneres Wissen darüber, was richtig und was falsch ist.

«Das Gewissen ist ein Beurteilungssystem, nach dem wir bewerten, wie wir denken und handeln. Diese angeborene Instanz wird beeinflusst von gesellschaftlichen Sitten und Normen, von Vertrauens- und Respektspersonen wie Eltern, Lehrern und Vorgesetzten sowie durch religiöse Vorgaben.»
Marcel Friedli

Als Kind verinnerlichen wir diese Wertvorstellungen. Dadurch festigen sich innere Glaubenssätze wie: «Ich muss ordentlich, pünktlich, fleissig und bescheiden sein.», «Das darf ich nicht.», «Das habe ich nicht verdient».

Dass ein schlechtes Gewissen zu einem grossen Teil anerzogen ist, wurde mir bewusst, als ich mit einem kleinen Jungen mit bunten Federn spielte, welche einen Lampenschirm zierten. Der Vater war verärgert und sagte dem Kleinen: «Damit darfst du nicht spielen, die Mama hat sich mit der Dekoration so viel Mühe gegeben.» Ich hatte ein schlechtes Gewissen, im Gegensatz zum Kleinen. Ich fragte mich: «Wieso hat er kein schlechtes Gewissen, ich aber schon? Woher kommt mein schlechtes Gewissen?»

«Nicht alle werden gleich stark von ihrem Gewissen verfolgt; einigen fällt der Umgang mit dem inneren Richter leichter als andern.»
Marcel Friedli

Frauen suchen die Schuld eher bei sich, machen sich selber Vorwürfe, richten Wut und Ärger weniger nach aussen. Obwohl ich ein Mann bin, gehöre ich zu dieser Kategorie. Schuldgefühle überfielen mich, als eine ältere Frau in der Kälte auf mich warten musste, weil ich eine Viertelstunde zu spät kam. «Warum nur habe ich ein schlechtes Gewissen? Ich habe das ja nicht absichtlich gemacht», dachte ich und beschloss, den Spiess umzudrehen: Mit einem Strahlen ging ich auf die Frau zu und sagte ihr, dass ich mich freue, sie zu sehen. Aufrichtig entschuldigte ich mich für die Verspätung. Sie lächelte mich an und sah es mir nach.

Vorzüge des schlechten Gewissens

Dieser innere Richter hat auch seine Vorzüge: Als Teil unserer Psyche sorgt er vorausschauend dafür, dass unsere Mitmenschen uns weiterhin mögen und wertschätzen. Er hält uns zudem den Spiegel vor, sodass wir Fehler erkennen und die Chance erhalten, Grösse zu zeigen: Dank dem schlechten Gewissen wächst der Wunsch, einen Fauxpas wiedergutzumachen oder um Entschuldigung zu bitten. Zudem fördert es das Miteinander und trägt dazu bei, dass wir als soziale Wesen vielerorts friedlich miteinander leben können; sonst würden wir uns grenzenlos beklauen, ausnutzen und Gewalt antun. Aber zum Glück begehen die meisten keine wirklichen Schandtaten. Trotzdem überwacht das schlechte Gewissen viele Menschen wie ein strenger Lehrer bis in die hintersten Windungen des Gehirns und verfolgt sie neurotisch.

«Doch woher kommen diese Schuldgefühle? Oft gründen sie – nebst den erwähnten inneren Glaubenssätzen – in Idealen und hohen Erwartungen an uns selber.»
Marcel Friedli

Man will alles perfekt und es allen recht machen. Entsprechend rasch fühlt man sich für etwas verantwortlich. Ein schlechtes Gewissen plagt zudem oft Menschen, die ein schwaches Selbstwertgefühl haben.

Buchtipp

Wolf, Doris: Wenn Schuldgefühle zur Qual werden. Selbstvorwürfe ablegen – sich verzeihen lernen. PAL-Verlag.

Emotionale Erpressung

Manche Leute manipulieren andere, indem sie ihnen ein schlechtes Gewissen machen – und bringen sie so dazu, nach ihren Vorstellungen zu handeln. Sie setzen also das Wecken von Schuldgefühlen als subtile Waffe ein, bewusst oder unbewusst: als emotionale Erpressung, sei es in der Partnerschaft, sei es gegenüber Kindern oder Freunden.

Oft sind Mütter Meisterinnen darin: «Endlich rufst du mal an. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen!», heisst es dann zur Begrüssung, wenn sich ihre erwachsenen Kinder melden. Um diesen Schuldattacken zu entgehen, melden sie sich ab sofort pflichtbewusst, aber zähneknirschend einmal pro Woche. Doch Schuld macht unfrei; und Liebe existiert nur in Freiheit. Emotionale Erpressung belastet eine Beziehung: Niemand fühlt sich wohl, weder wenn man erpresst wird, noch wenn man zu diesem Machtmittel greift.

Das schlechte Gewissen zähmen

Oft jedoch werden die Schuldgefühle nicht bewusst aktiviert – sie werden unversehens an die Oberfläche gespült. Und so kann das Leben eine neue Note gewinnen, wenn wir lernen, das schlechte Gewissen mit den richtigen Fragen zu zähmen: In welchen Situationen ist das schlechte Gewissen da? Welche Wertvorstellungen werden angesprochen? Wie viel Verantwortung hat man selber, welche Verantwortung tragen andere? Diese Fragen sind befreiend; es geht uns dann wie dem Elefanten, der in jungen Jahren an einen Pfahl gebunden war und nie auf die Idee gekommen wäre, auszubüxen. Gross geworden erkennt er, dass er diesen kleinen Pfahl locker ausreissen und sich befreien kann.

«Als vernunftbegabte und zu kritischem Denken fähige Menschen haben wir das Potenzial, uns von den kindlich-kindischen Prägungen zu lösen. Das Gewissen darf uns zwar liebevoll auf Ungereimtheiten aufmerksam machen, uns jedoch nicht drangsalieren.»
Marcel Friedli

Es ist nicht unser Boss, sondern unser Freund, der uns so guttut wie ein gutes Gewissen: Sei es, weil wir erkannt haben, dass Schuldgefühle unberechtigt sind – oder wir uns für ein Versehen entschuldigt, also die tatsächliche Schuld abgelegt haben.

Wohl darum heisst es so schön: Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen.