17. August 2022

Diagnose mit Folgen für Mutter und Kind

Diagnose mit Folgen für Mutter und Kind
Lesezeit ca. 7 min

Gestationsdiabetes, der sogenannte Schwangerschaftsdiabetes, ist weltweit die häufigste Schwangerschaftskomplikation. 10 bis 15 Prozent aller schwangeren Frauen sind betroffen.

Was ist Schwangerschaftsdiabetes?

Insulin ist das körpereigene Hormon, das in der Bauchspeicheldrüse gebildet wird und den Zuckerhaushalt reguliert. Kann der Körper nicht genug Insulin herstellen, äussert sich das in einem erhöhten Zuckergehalt im Blut: Der Körper hat Mühe, den Zucker in Energie umzuwandeln. Gemäss Diabetes Schweiz gibt es in der Schweiz rund 500 000 Diabetikerinnen und Diabetiker – weltweit ist Diabetes eine der häufigsten chronischen Krankheiten. Die Stoffwechselkrankheit wird unterschieden in Typ 1 und Typ 2, wobei Typ 1 vor allem jüngere Menschen betrifft und Typ 2 eher ältere.

Eine Sonderform der Stoffwechselkrankheit betrifft schwangere Frauen, denn sie haben durch die Hormonveränderungen in der Schwangerschaft einen erhöhten Insulinbedarf. Wenn das körpereigene Insulin genau durch diese Hormonveränderungen nicht ausreicht, steigt der Blutzucker und man spricht von Gestations- oder Schwangerschaftsdiabetes.

Dies hat Folgen für das Baby im Bauch: Durch den erhöhten Blutzucker der Mutter reagiert es mit einer erhöhten eigenen Insulinproduktion. Dies führt dazu, dass das Ungeborene schneller wächst und mehr zunimmt.

Diabetes-Screening für alle Schwangeren

Die Ursachen von Schwangerschaftsdiabetes sind gemäss Markus Laimer, Chefarzt für Diabetologie, Endokrinologie, Ernährungs­medizin und Metabolismus (UDEM) am Inselspital Bern, nicht klar. Da gesunde Frauen ohne Verdacht nicht auf Diabetes getestet werden, wisse man nicht, ob die erhöhten Blutzuckerwerte schon vor der Schwangerschaft da waren oder erst durch die Hormonumstellung in der Schwangerschaft entstanden sind.

Als Risikofaktoren gelten Übergewicht, familiäre Vererbung, überdurchschnittliche Gewichtszunahme in der vorangegangenen Schwangerschaft, afrikanische, asiatische oder latein­amerikanische Herkunft sowie ein Alter ab 40 Jahren.

Deshalb empfiehlt Markus Laimer bei Risikopersonen, den Blutzucker schon bei der ersten Schwangerschaftskontrolle zu testen. «Ein unerkannter und somit nicht behandelter Schwangerschaftsdiabetes kann sowohl Mutter als auch Kind gefährden», sagt er. «Deshalb macht das Screening Sinn und wird auch allen schwangeren Frauen ohne bekannten Diabetes empfohlen.»

Das Gefährliche am Schwangerschaftsdiabetes:

«Da die Schwangere keine Beschwerden hat und die typischen Anzeichen von Diabetes – wie etwa starker Durst oder häufigeres Wasserlassen – nicht vorkommen oder gar typisch sind für eine Schwangerschaft, ist es unerlässlich, den Glukosegehalt im Urin zu messen.»
Manuela Donati

Zucker im Urin weist zusammen mit einer grossen Menge an Fruchtwasser und einer grossen Grösse des Kindes auf Schwangerschaftsdiabetes hin. Die Urinuntersuchung ist allerdings wenig aussagekräftig, weshalb die Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, gynécologie suisse, seit 2009 empfiehlt, bei allen Schwangeren einen sogenannten Zuckerbelastungstest durchzuführen. Dieser wird von den Krankenkassen bezahlt und zwischen der 24. und 28. Schwangerschaftswoche durchgeführt. Bei diesem oralen Glukose-Toleranztest (oGTT) trinkt die Schwangere auf nüchternen Magen eine Zuckerlösung aus Wasser und Glukose. Nach einer und nach zwei Stunden wird der Blutzuckerwert gemessen. Sind die Untersuchungswerte über einem bestimmten Grenzbereich, steht die Diagnose: Schwangerschaftsdiabetes.

Die Lösung: Ernährungsumstellung und Bewegung

Für viele Schwangere ist die Diagnose erst einmal ein Schock und schwer einzuordnen, besonders, wenn die Schwangerschaft bisher ohne Komplikationen verlief.

«Die gute Nachricht: Bei 85 Prozent der Betroffenen reicht eine Ernährungsanpassung, um die Blutzuckerwerte wieder ins Lot zu bringen.»
Manuela Donati

In der Schwangerschaft ist eine gesunde und ausgewogene Ernährung besonders wichtig, und das gilt umso mehr bei der Diagnose Schwangerschaftsdiabetes. Eine Diät oder der Verzicht auf Kohlenhydrate ist der falsche Ansatz. Leicht umzusetzen und mit positivem Effekt auf die Blutzuckerwerte ist eine Ernährung, bei der jede Mahlzeit aus rund 40 bis 50 Prozent Kohlenhydraten, 20 Prozent Proteinen und 20 bis 30 Prozent Fett besteht. Um Blutzuckerspitzen zu vermeiden, sollten neben drei nicht allzu grossen Hauptmahlzeiten zwei bis drei kleinere Zwischenmahlzeiten eingenommen werden. Süssigkeiten sind trotz Schwangerschaftsdiabetes erlaubt – in Massen, denn «versteckte» Zucker in Früchten, Softgetränken und Weissmehlprodukten wirken sich zusätzlich auf die Blutzuckerwerte aus. Ballaststoffreiche Getreideprodukte, frisch zubereitetes Gemüse und fettarme Milchprodukte sind hingegen ideal. Nach dem Essen wird der Blutzuckerwert mit einem kleinen Piks in den Finger regelmässig selbst gemessen.

Diagnose mit Folgen für Mutter und Kind

Da auch die Lebensweise, Stress und Schlafqualität einen Einfluss auf die Blutzuckerwerte haben, rät Lia Bally, Leiterin Ernährung, Metabolismus und Adipositas und Leiterin Forschung am Inselspital Bern, zu einer ausgewogenen Lebensweise mit viel Bewegung: «Regelmässige, für Schwangere gut durchführbare und risikolose körperliche Betätigungen wie Schwimmen, Gehen und Treppensteigen lassen die Körperzellen besser auf das körpereigene Insulin ansprechen.»

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Erst wenn diese Anpassungen nicht wirksam sind, wird Insulin verschrieben. Gemäss Markus Laimer spritzt etwa jede vierte Frau mit Schwangerschaftsdiabetes Insulin für die Zeit bis zur Geburt. Eine unbedenkliche Massnahme, wie er beruhigt: «Da Insulin nicht die Plazenta passiert, gelangt es nicht in den Kreislauf des Kindes.»

Diabetes-Risiko für Mutter und Kind

Wenn die Wehen einsetzen, wird die Behandlung mit Insulin beendet. Bei den meisten Frauen mit Schwangerschaftsdiabetes normalisieren sich die Zuckerwerte nach der Geburt wieder. Auch wenn vorher Insulin gespritzt wurde, ist in der Regel nach der Geburt kein Insulin mehr nötig.

Dennoch ist die Diagnose Schwangerschaftsdiabetes nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, kann sie doch für Mutter und Kind zu ernsthaften Komplikationen führen. Schwangerschaftsdiabetes kann zu einem schnelleren Wachstum des Kindes führen, was auch vergrösserte, aber unreife innere Organe bedeutet. Ein grösseres Kind ist meistens auch schwerer, was die Möglichkeit von Komplikationen und Eingriffen bei der Geburt erhöhen kann. Nach der Geburt sind Babys von Müttern mit Schwangerschaftsdiabetes häufiger von Unterzuckerung und Gelbsucht betroffen.

Und schliesslich besteht ein späteres Diabetesrisiko für Mutter und Kind: Eine deutsche Studie befand, dass 30 Prozent der Kinder von Müttern mit Schwangerschaftsdiabetes übergewichtig werden – ein Risikofaktor für einen späteren Typ-2-Diabetes. Bei den Müttern mit Schwangerschaftsdiabetes ist das Risiko, später an Diabetes mellitus Typ 2 zu erkranken, gar bis zu 50 Prozent höher. Deshalb wird nach einem Schwangerschaftsdiabetes empfohlen, den Blutzucker in jährlichen Abständen zu untersuchen. Eine Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums OBSAN hat jedoch ergeben, dass dies in Realität oft vernachlässigt wird. Als Prävention einer späteren Diabetes-Diagnose sollten daher die Empfehlungen bei Schwangerschaftsdiabetes in Bezug auf Ernährung und Bewegung auch nach der Schwangerschaft beachtet werden.