Wenn die Seele weint
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Verletzlich zu sein, gehört zum Menschen. Manchmal sind Verletzungen so tief, dass man von einem Trauma spricht. Sich eines Traumas bewusst zu werden, ist schmerzhaft – aber eine Gelegenheit, Heilung zu erfahren und befreiter zu leben.

Vergessenes Trauma

Eigentlich hatte ich den Sturz vergessen. Vergessen hatte ich die starken Schmerzen in den Armen. An einem Frühlingstag vor zehn Jahren war es gewesen, als ein Eichhörnchen auf die Strasse schnellte und ich überzeugt war, dass es nur am Leben bleibt, wenn ich sofort bremse. Das Eichhörnchen überlebte – mich jedoch katapultierte es vom Rad. Wegen des heftigen Aufpralls konnte ich meine beiden Arme danach kaum mehr bewegen. Viele sanfte, achtsame Bewegungen mit bewusstem Atmen sowie eine Riesenportion Geduld waren nötig, bis alles wieder fast wie vorher war – und ich dieses Erlebnis vergass.

Bis vor Kurzem. Berührungen und Dehnungen in einer therapeutischen Massage liessen die Erinnerungen aufflackern: Die Schmerzen im Arm meldeten sich zurück und zeigten, dass der Körper die Erfahrung gespeichert hatte – und sie durch die Berührungen getriggert worden war. Mir wurde bewusst, dass sich hinter dem Sturz – einer Form von Trauma – eine psychologische, biografische Komponente versteckt. Dass damit auch diese Erfahrung zusammenhängt, dass ich, obwohl es nicht meine Aufgabe ist, andere schützen will – und dabei selber zum Opfer werde. Dies geht auf meine Erfahrung als Kind zurück, als ich meine Bedürfnisse hinter jene meiner Mutter zurückzustellen pflegte. Im trügerischen Glauben, sie glücklich machen zu können.

Starke emotionale Reaktionen

Trauma bedeutet: Verletzung, Wunde. Diese kann sich wie folgt in Erinnerung rufen: Eine Erfahrung im aktuellen Leben löst aussergewöhnlich starke Emotionen aus, schüttelt einen durch. Die schützende Haut über einer Wunde wird aufgerissen und blutet.

«Manchmal sind die Emotionen so intensiv, dass man von emotionalem Fieber geschüttelt wird. Es ist einem nicht bewusst, woher der Grund für diese starke Reaktion von einem Trauma herrührt.»
Marcel Friedli

Manchmal – bei starken Traumata wie Missbrauch und Gewalt – werden Symptome chronisch. Sie entwickeln sich zu einer posttraumatischen Belastungsstörung, die fachlicher Unterstützung bedarf.

Unbewusste Muster

Glückliche Fügung ist, Traumata durch Biografiearbeit nach und nach zu erkennen und aufzuarbeiten. Manchmal bedarf es hierzu einer Psycho- oder Körpertherapie, einem Coaching, einer Familienaufstellung und so weiter. Häufig sind Erfahrungen in uns abgespeichert, die sich von unserem Bewusstsein abgespaltet haben und vermeintlich vergessen sind. Dann ist da ein Kloss, ein Klotz von Gefühlen, dessen Ursprung unbekannt ist.

Oft gerät man in immer wiederkehrende Situationen, die einem das Leben schwer machen. Die man meidet oder aus denen man flüchtet – ohne genau zu wissen, warum. Man hat das Gefühl, von Diffusem getrieben zu werden, versteht die eigenen Gefühle, das eigene Verhalten nicht.

«Wir werden dann von unbewussten Mustern, die von traumatischen Erfahrungen herrühren, gesteuert. Sie haben mit dem Auslöser der Situation oft wenig zu tun.»
Marcel Friedli

So ging es mir des Öfteren, als ich – das Znacht auf dem Tisch – auf meinen Freund wartete. Er kam etwas später als angekündigt. Nicht dramatisch, aber es löste in mir eine Achterbahn von Gefühlen aus. Ich wurde unruhig, ungeduldig und nervös, war aufgewühlt, wütend, traurig, enttäuscht. Ein seltsames Sammelsurium an Emotionen, über das ich mich im Nachhinein wunderte. Diese Situation, auf der Wartebank einem Gefühlssturm ausgeliefert zu sein, erlebte ich etliche Male. Schliesslich kam ich dem Grund auf die Spur: Die Situation versetzte mich zurück in die Zeit, als ich als Junge sehnsüchtig und ängstlich auf die Rückkehr meiner Mutter wartete, die gerade arbeiten war. Mich erfasste ein Gefühl der Angst, dass meine Mutter nie mehr zurückkommen würde. Mich quälte der Gedanke daran, dass ihr etwas zugestossen sein könnte und dass ich jetzt für immer alleine sein würde.

Wenn die Seele weint

Transgenerationale Weitergabe

Beim Reflektieren stiess ich auf Spuren, die noch tiefer liegen – in die Zeit vor und nach meiner Geburt: Wie ich auf meinen Freund hatte meine Mutter häufig auf meinen Vater gewartet. Vergeblich. Mit dem warmen Abendessen, das wie ihr Herz erkaltete. Die emotionalen Berg- und Talfahrten meiner Mutter, die von meinem Vater von Stunde zu Stunde vertröstet wurde, scheine ich als Embryo und Baby ebenso erlitten zu haben. Auch für meine Mutter war das stete Warten auf ihren Mann wahrscheinlich eine Retraumatisierung: Das Trauma wurde wieder aufgerüttelt. Meine Oma hatte meine Mutter vernachlässigt. Das erzählte mir meine Mutter eines Tages. Dieses Gefühl bemächtigte sich ihrer vermutlich immer wieder von Neuem, wenn mein Vater nicht auftauchte.

«Von der Grossmutter zur Mutter, zum Kind: Traumata können über Generationen weitergegeben werden. Man spricht dann von transgenerationalen Traumata.»
Marcel Friedli

Trauma erkennen und analysieren

Sie können sich jedoch auflösen – wenn man sie als Betroffener erkennt und analysiert.

Dies ist der erste Schritt. In einem zweiten lernt man, die Gefühle, welche diese mit sich bringen, liebevoll anzunehmen und sie ins Hier und Jetzt zu übertragen. Übertragen auf das Beispiel mit dem Warten, lernte ich mir Folgendes zu sagen: Es ist alles gut, mein Freund hat nur ein bisschen Verspätung, nichts weiter. Zudem: Ich bin nicht mehr der Junge, der ohne seine Mutter nicht leben kann – ich bin ein erwachsener Mann, der sich alleine zurechtfindet.

Ich lernte, Erfahrungen meiner Mutter von meinen Erfahrungen zu trennen: Sie ist von ihrer Mutter und ihrem Mann nicht beachtet und versetzt worden – nicht ich. All das ist lange her. Ich darf dies abschliessen und loslassen.

Sich Verdrängtem annähern

Um diese innere Ruhe, Versöhnung – das Heilen tiefer Verletzungen – zu erfahren, bedarf es der Geduld und Bereitschaft, den dafür nötigen Weg zu gehen, auch wenn er unbequem und schmerzhaft ist. So gelangt man immer tiefer, Schicht um Schicht – allenfalls bis zu jenen Wunden, die man von sich selber abgespalten hat.

Erfahrungen, die einen so tief getroffen und erschüttert haben, dass man sie nur deshalb aushalten konnte, weil man sich von ihnen innerlich und körperlich entfernt hatte.

«Man hat die Notbremse gezogen, um sich vor dem immensen Schmerz zu schützen, indem man die Erfahrung von sich abtrennt.»
Marcel Friedli

Als wäre es die andere Person, die diese schreckliche Erfahrung hat machen müssen. Auf diese Art verdrängt man die Erfahrung – vergessen ist sie aber nicht. Sie wirkt weiter unbewusst ins Leben hinein.

Verletzungen annehmen und verstehen

Dem ist man jedoch nicht ausgeliefert. Man kann lernen, sich dem Verdrängten anzunähern, zum Beispiel über den Körper: sich auf ihn einzulassen, auf ihn zu hören. Achtsamkeits- und Atemübungen, Yoga, heilende Berührungen, Meditation sind hilfreich. So ertastet man einen Raum, in dem feineres Wahrnehmen möglich ist, lernt Schmerzen anzunehmen und sie zu verstehen, sie in den Kontext der Erfahrungen, Emotionen und Gedankenmuster zu setzen. Man lernt sie zu lesen, indem man sich innerlich einen Schritt davon entfernt.

«Schmerzen sind Botschaften des Körpers, wenn die Seele schreit.»
Marcel Friedli

Ist man stark traumatisiert, ist dieser Zugang am Anfang häufig verschlossen.

Wenn die Seele weint

Verletzungen heilen

In einem ersten Schritt ist es hilfreich, den Körper präziser wahrzunehmen: zum Beispiel Sport zu treiben, sich viel zu bewegen. So können Betroffene zu ihrem Körper zurückfinden und wieder Freundschaft mit ihm schliessen.

Falls man einen Zugang zu Träumen hat, können diese ein Schlüssel zur Heilung sein. Sofern dies möglich ist, erzählen jene Puzzleteile des Traumas eine Geschichte, an die man sich zu erinnern vermag.

Erzählend können sich Erinnerungen konkretisieren. Betroffene können lernen, auf die Gefühle zu achten, die dabei auftauchen – und lernen, sie anzunehmen. Sei es im Gespräch mit nahen Freunden oder mit fachlicher Unterstützung.

Sich kreativ mit verletzenden Erfahrungen auseinanderzusetzen, sie aufzuschreiben, sie in einem Podcast aufzuzeichnen, sie zu malen, zu zeichnen, zu tanzen, Gedichte, Geschichten, Lieder zu schreiben, all das kann ebenso unterstützend wirken. Viele Menschen finden so einen Kanal, ihre Verletzungen in  schöpferische Energie umzuwandeln.

Oft strahlen Menschen, die Schweres erlebt haben und gestärkt daraus hervorgingen, eine besondere Kraft aus – die andere berührt und ermuntert, sich liebe- und vertrauensvoll sowie heilsam mit ihren eigenen tiefen Verletzungen auseinanderzusetzen.