26. Januar 2022

So viele offene Fragen

So viele offene Fragen
Lesezeit ca. 8 min

Haben Sie auch immer wieder offene Fragen? Ganz allgemeine Fragen zum Leben? Oder zur Pandemie? Und fehlen Ihnen auch oft die entsprechenden Antworten?

Grosse und kleine Fragen

Fragen gibt es im Leben immer wieder. Und in der momentanen Zeit ganz besonders. Etwa im Zusammenhang mit der Pandemie: Woher kommen eigentlich diese Viren? Wie gefährlich sind sie? Was nützen die Tests? Welche Nebenwirkungen hat die Impfung? Sind die Massnahmen sinnvoll? Nützt die Maske wirklich? Wie lange dauert das denn noch? Wie viele Menschen sind jetzt tatsächlich an Corona gestorben und wie viele Menschen «nur» mit Corona infiziert?

Auch zum Klimawandel gibt es viele Fragen: Sind wir wirklich selber daran schuld? Was könnten wir dagegen tun? Warum bremst die Politik immer wieder? Wie schlimm kann es für uns werden? Wie wird in zehn oder zwanzig Jahren unser Leben, unsere Landwirtschaft, unsere Ernährung oder unser Freizeitverhalten aussehen?

Doch das ist längst nicht alles. Zu all dem kommen noch ganz persönliche Fragen: So klagte mir doch kürzlich eine Bekannte ihr Leid und schilderte ausführlich die Raufereien, Streitereien, Kapriolen und Eskapaden ihrer halbwüchsigen, scheinbar verwilderten Jungs und stellte mir die Frage, weshalb dem so sei. Klar, ich hätte dieser Bekannten einen Vortrag über entwicklungspsychologische Abläufe und Zusammenhänge halten können, doch alle ihre Fragen wären damit sicher nicht beantwortet gewesen. Ich hätte ihr sagen können, dass Kinder eine orale, eine anale und eine genitale Phase durchlaufen, dass das Trotzalter von grosser Bedeutung sei und dass es in der Pubertät auch darum ginge, sich selbst zu erfahren, sich durchzusetzen, Grenzen auszuloten, um letztlich sich selbst zu finden. Doch was wissen wir denn schon wirklich vom Leben? Wissen wir das Wesentliche?

Der Mensch ist neugierig

Noch gut erinnere ich mich daran, wie mir mein damals vier-, fünfjähriger Sohn fast Löcher in den Bauch fragte: «Warum wird es dunkel in der Nacht? Warum können Hunde nicht reden? Warum ist der Schnee weiss? Warum braucht das Auto Benzin oder warum müssen wir alle einmal sterben? Warum hat Onkel Peter eine Glatze? Warum ist Gemüse gesund und Schokolade weniger?» Viele Fragen konnte ich ihm beantworten, etwa die Frage nach dem Zweck des Benzins, auf viele Fragen jedoch hatte ich auch keine Antworten. Zumindest keine befriedigenden. Warum Hunde nicht reden können, weiss ich übrigens heute noch nicht.

«Der Mensch ist grundsätzlich sehr neugierig. Er will alles wissen, erkennen, er sucht und forscht, er analysiert, er stellt Hypothesen auf, er zieht dieses in Betracht oder er erwägt jenes, er spekuliert, er philosophiert und er grübelt. Und manchmal – so glaube ich jedenfalls – denkt er über Dinge nach, über die es eigentlich gar nichts nachzudenken gibt.»
Albin Rohrer

Vor vielen Jahren, während meiner Ausbildung zum Musiklehrer, hatte ich diesbezüglich ein Schlüsselerlebnis: Unser damaliger Dozent – ein angesehener Musikprofessor und eine absolute Koryphäe seines Faches – behandelte mit uns die Musik von Johann Sebastian Bach. Dabei referierte er eineinhalb (!) Stunden über die ersten acht Takte einer berühmten Fuge des grossen Komponisten. 90 Minuten Theorie über Tonhöhen, Intervalle, Harmonien, Tempi, Dynamik. Knochentrockene Theorien und Spekulationen. Mein Gott! Schon nach einer knappen halben Stunde wäre ich aus  lauter Langeweile fast ohnmächtig vom Stuhl gekippt. Er stellte Fragen, die ich einfach nicht als wirklich relevant einstufte! Und ich stellte mir die Frage, was diese Fragerei soll. Hat Bach denn so wunderbare Musik geschrieben, damit wir uns die Köpfe darüber zerbrechen? Hat Bach seine Fugen geschrieben, damit ein sogenannter «Musikexperte» einen Saal voll junger, musikbegeisterter Männer und Frauen mit theoretischen und (aus meiner Sicht) abstrusen Ausführungen zu Tode quält? Oder hat er sie vielleicht doch eher geschrieben, damit wir Freude daran haben, wenn wir diese Fuge spielen oder hören? Er selbst pflegte zu sagen, seine Musik sei «zu Ehren Gottes».

Und schon stellt sich wieder eine Frage: Gibt es Gott tatsächlich? Und falls ja: Was denkt er wohl, wenn er sieht, wie wir mit unserer Welt umgehen? Warum duldet er das Böse? Warum greift er nicht ein? Und: Gefällt ihm eigentlich die Musik von Bach?

Ich glaube nicht alles!

Ja, was wissen wir denn schon vom Leben? Von den grundsätzlichen Dingen? Von den Hintergründen? Vom Sinn? Wie ich schon bemerkt habe, hatte ich auf gewisse Lebensfragen auch schon Antworten gefunden, diese später jedoch wieder als unbrauchbar verwerfen müssen. Ob dies an den Fragen lag oder an meiner Wankelmütigkeit? Oder doch eher an den Antworten?

«Mittlerweile bin ich geneigt zu sagen, dass man einer Frage eher trauen kann als einer Antwort, weil eine Frage wahrscheinlich über die grössere Beständigkeit verfügt als eine Antwort.»
Albin Rohrer

Und so werde ich immer auch ein wenig misstrauisch, wenn mir jemand auf eine schwierige Frage sogleich eine Antwort gibt. Ich glaube einfach nicht mehr alles. Und am vorsichtigsten bin ich mit sogenannten «Experten».

Natürlich glaube ich es meinem Garagisten, wenn er mir erklärt, weshalb mein Auto hinten links bei jeder Rechtskurve klappert. Ich glaube auch meinem Arzt, wenn er mir sagt, weshalb nun mein linker Daumen geschwollen ist und wie lange es dauert, bis die Schwellung abgeklungen sein wird. Aber soll ich allen Politikern glauben, die zu wissen meinen, was wir tun müssten, um alle gesellschaftlichen
Probleme zu lösen? Oder soll ich den Tausenden von Antworten in den unzähligen Lebenshilfebüchern glauben, in denen steht, wie ich erfolgreich, gesund oder dauerhaft glücklich werden kann? Und welchen Virologen soll ich jetzt glauben? Denen, die bezüglich der Pandemie den Teufel an die Wand malen oder denen, die das Ganze weniger schlimm einstufen …?

Wissen Sie, was ein Koan ist?

Eher per Zufall bin ich vor einiger Zeit auf die sogenannten «Koans» gestossen. Koans stammen aus dem Zen-Buddhismus, es sind kurze Sätze, Aufgaben, Rätsel, über die man nachdenken kann, die jedoch mit unserem «normalen», logischen Denken nicht zu bewältigen sind; es sind Fragen, die niemals im üblichen Sinne beantwortet werden können. Hier ein Beispiel: Klatschen Sie einmal in beide Hände. Hören Sie den Ton der linken Hand? Oder noch ein anderes Beispiel: Ein Zen-Schüler fragte seinen Meister: «Hat ein Hund auch Buddha-Natur in sich oder nicht?» Der Meister antwortete «Muh».

Vielleicht ist das Leben – und mit ihm all die vielen offenen Fragen – selbst nichts anderes als ein Koan. Denn es gibt doch so vieles, was wir nicht wissen, was wir nicht verstehen und auch nicht begreifen. Wir tun doch manchmal einfach nur so, als wüssten wir es. Sollten wir da nicht etwas ehrlicher mit uns sein?

Und: Müssen wir eigentlich alles wissen? Was mir übrigens auch schon aufgefallen ist: Es gibt Menschen, die stellen immer wieder Fragen. Und es gibt Menschen, die haben auf alles immer eine Antwort. Man sollte ja grundsätzlich Menschen nicht bewerten, aber ehrlich gesagt: Menschen, die Fragen stellen, halte ich für viel interessanter als Menschen, die immer auf alles eine Antwort haben.

So viele offene Fragen

Ein Professor und ein Astronom

Ein Professor zeigte seinem neuen Assistenten, einem ehemaligen Schüler von ihm, die Themen für die anstehenden Prüfungen. «Das sind ja die gleichen Fragen», rief der Gehilfe entsetzt, «die Sie mir vor Jahren hier schon gestellt haben!» «Gewiss», meinte der Professor, «die Fragen sind seit Jahren in allen Prüfungen die gleichen. Aber in jedem Jahr sind andere Antworten richtig …»

«Da stellt sich schon die Frage, wie richtig eine Antwort ist. Und manchmal stellt sich bei einer Frage nicht nur die Frage nach der Richtigkeit, sondern auch die nach der Wichtigkeit. Müssen wir denn wirklich auf jede Frage eine Antwort haben?»

Wären wir glücklicher, wenn wir alles erklären könnten oder liegt nicht gerade ein Teil des Reizes des Lebens darin, nicht alles bis ins letzte Detail zu verstehen?

Und dann noch eine letzte Frage: «Warum ist das mit den Fragen eigentlich manchmal so unangenehm?»