08. Oktober 2021

So viele Probleme?

So viele Probleme?
Lesezeit ca. 8 min

Die Welt ist offenbar voller Probleme. Ist das denn wirklich so schlimm?

Klimawandel mit Hitzewellen und Überschwemmungen, Corona-Pandemie mit massiven wirtschaftlichen Schäden, korrupte Politiker, Finanzkrisen, Umweltverschmutzung mit vergifteten Böden, Plastik im Meer und verpesteter Luft in den Städten, unklare Zukunft der AHV, verstopfte Strassen, Lärm in den Städten … Die Liste der allgemeinen Probleme könnte beliebig verlängert werden. Und wenn ich die Welt anschaue, habe ich nicht das Gefühl, dass diese Probleme in naher Zukunft kleiner werden. Ganz im Gegenteil.

Dazu kommen dann noch vielerorts die persönlichen Probleme: gesundheitliche Probleme, Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, Beziehungsprobleme, Probleme bei der Erziehung der Kinder, Probleme in der Waschküche mit der giftigen Nachbarin, finanzielle Probleme, Zukunftsängste, zu wenig Zeit … Auch diese Liste könnte endlos fortgeführt werden.

Also alles in allem: Die Welt scheint voller Probleme zu sein. Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt, dass dem auch früher schon so war und man braucht kein Hellseher zu sein, um sich darüber klar zu werden, dass es wohl auch in Zukunft so bleiben wird. Die Probleme werden sich zwar in ihrer Art und vielleicht auch in ihrer Intensität verändern. Aber sie werden ganz sicher bleiben.

Was ist eigentlich ein Problem?

Was verbinden wir denn mit dem Begriff «Problem»? Welche Assoziationen haben wir, wenn jemand von einem «Problem» spricht oder wenn wir dieses Wort selber benützen? Ist ein Problem immer etwas Negatives? Oder ist der Begriff «Problem» vielleicht sogar wertfrei und neutral? «Was für eine komische Frage», meinte kürzlich ein Bekannter, als ich ihn damit konfrontierte, «Probleme sind doch immer etwas Unangenehmes, etwas, das stört und stresst, das will doch niemand, ein Problem ist doch wohl sicher nichts Positives».

«Nun, ich will ja gar nicht behaupten, ein Problem sei etwas Positives. Aber es ist grundsätzlich auch nichts Negatives. Es ist einfach etwas, was da ist. Das Wort Problem stammt nämlich aus dem Griechischen und bedeutet ursprünglich das Vorgelegte. Ein Problem ist folglich einfach etwas, was da ist.»
Albin Rohrer

Von einem Problem zum nächsten

Was mich aber im Zusammenhang mit Problemen am meisten beschäftigt, ist die Tatsache, dass – wie ich glaube – viele, wenn nicht alle gelösten Probleme uns eigentlich nur wieder neue Probleme bescheren. Hier ein, zwei Beispiele:

Die Idee, in der Schweiz eine obligatorische Krankenversicherung einzuführen, war ja sicher eine gute Idee. So sind doch die Probleme gelöst, dachte man. Alle können medizinisch versorgt werden, die Versicherung basiert auf dem Solidaritätsprinzip. Und jetzt? Jahre später? Jetzt sind zwar alle Personen in der Schweiz bestens versichert, dafür ist die Krankenkasse selbst das Problem. Die Prämien steigen jedes Jahr, es werden Operationen durchgeführt, deren Notwendigkeit durchaus bezweifelt werden können und die niemals ausgeführt würden, wenn wir die gesamten Kosten selber tragen müssten – und alle stöhnen über die steigenden Kosten im Gesundheitsbereich.

Ähnliches passierte mit dem Autoverkehr. Natürlich ist es sehr praktisch, zügig mit dem eigenen Auto von A nach B zu gelangen oder schwere Lasten nicht mehr mit einem Handkarren schleppen zu müssen. Doch: Die Anzahl der Autos stieg in den letzten Jahrzehnten ins Unermessliche. Um das Problem zu lösen, wurden Strassen gebaut. Mehr Strassen zog mehr Verkehr nach sich, jetzt sind die Strassen wieder verstopft und parkieren kann man auch kaum noch. Sollen wir jetzt noch mehr Strassen bauen? Noch mehr Parkplätze einrichten? Wäre dann das Problem gelöst? Wann war denn eigentlich das Problem grösser? Früher, als es keine Autos gab und dafür viel Muskelkraft notwendig war? Oder heute, wo wir so viele Autos haben, dass in den Städten permanent alles verstopft ist, wo es kaum Parkplätze gibt und ganze Landschaften zugunsten des Verkehrs zubetoniert werden?

So viele Probleme?

«Wenn ich dann endlich wieder Arbeit habe, dann werde ich keine Probleme mehr haben und mir wird es wieder gut gehen». Das hört man oft von Arbeitslosen. «Wenn ich dann endlich genug Geld habe, werde ich keine Probleme mehr haben», das sagen Bedürftige. «Wenn ich wieder eine Beziehung habe, dann geht es mir wieder besser», sagen Singles. «Wenn dann die Kinder grösser sind, werden wir keine Probleme mehr haben», sagen Eltern. «Wenn unser Umsatz um zehn Prozent gestiegen sein wird, ist unser Problem gelöst», sagen Unternehmer und Politiker sind nicht selten der Ansicht, dass sie nur die kommende Abstimmung gewinnen müssen, damit ihre Probleme gelöst sein werden.

Ist das nicht eine Illusion? Denn: Wer keine Arbeit hat, hat mit der Arbeitslosigkeit ein Problem, wer Arbeit hat, hat meist damit ein Problem. Wer Single ist, findet das problematisch und wer in einer Beziehung lebt, kann auch damit Probleme haben. Kleine Kinder machen Probleme, grosse Kinder aber auch. Wenig Geld kann genauso stressen wie sehr viel Geld.

«Die Geschichte zeigt es: Jedes gelöste Problem schafft neue Umstände, die dann wieder ein Problem sein können – und es meist auch sind ...»
Albin Rohrer
So viele Probleme?

Kleine und grosse Probleme

Wenn ich auf mein bisheriges Leben zurückblicke, so kann ich ohne zu übertreiben behaupten, dass ich schon sehr viele Probleme hatte und auch schon sehr viele Probleme gelöst habe. Persönliche Probleme, berufliche Probleme, finanzielle Probleme, gesundheitliche Probleme, Probleme mit der Beziehung und der Erziehung. Es gab kaum Zeiten und Bereiche, die mir nicht in irgendeiner Form ein Problem in den Weg gelegt hätten. Und was ist jeweils passiert? Kaum war ein Problem gelöst, stand schon das nächste vor der Türe. Um das zu verhindern, hätte ich ja vielleicht in ein Zelt ziehen können (Zelte haben bekanntlich keine Türen …), doch ich vermute, dass auch das wieder Probleme mit sich gebracht hätte. Zum Beispiel ein bitterkalter Wintertag, ein Gewitter oder ein Sturm …

«Es gibt bekanntlich kleinere und grössere Probleme, wichtigere und unwichtigere Probleme und es gibt – das können auch alle chronischen Optimisten nicht abstreiten – auch Probleme, die praktisch gar nicht lösbar sind. »
Albin Rohrer

Oder weiss jemand eine Lösung für den schon Jahre dauernden Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern? Unzählige Versuche diesbezüglich sind gescheitert, meist bereits im Keim erstickt worden.

Unlösbare Probleme treten auch in der Erkenntnistheorie und in der Logik auf. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist die Frage nach der Allmächtigkeit Gottes: Ist Gott allmächtig? Nein, das kann er nicht sein. Ein alter Spruch besagt nämlich Folgendes: «Gott kann gar nicht allmächtig sein, weil er keinen Stein erschaffen kann, den er selbst nicht mehr tragen kann».

Nun: Über dieses Problem möchte ich mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Ich spüre schnell, dass ich kaum zu einer Lösung käme, ausserdem möchte ich meine Energie viel lieber all den Problemen zuwenden, die für mein Leben beziehungsweise für mein Wohlbefinden relevant sind. Und solche gibt es tatsächlich immer wieder.

Ohne Probleme leben?

Kürzlich gönnte ich mir wieder einmal ein richtig schönes Wochenende. Alle Arbeit war zu diesem Zeitpunkt getan, ich fühlte mich gesundheitlich gut, keine Beziehungsprobleme störten das Wohlbefinden, ich hatte genug gegessen und getrunken, war ausgeschlafen und räkelte mich vergnügt und glückselig auf einem Liegestuhl, mit Blick auf eine wunderbare Bergkette.

So schön wie das auch war, so sehr erschrak ich auch darüber. Wie wäre es, wenn es immer so wäre? Könnte ich ohne Probleme überhaupt leben? Würde es mir nicht doch plötzlich allzu langweilig, wenn es nichts zu tun gäbe, wenn ich keine Aufgaben hätte, wenn ich keinen Herausforderungen gegenüberstünde? Ich bin fast sicher: Das wäre ein paar Tage ganz sicher lustig, auf Dauer aber – jedenfalls für mich – kaum auszuhalten.

«Wie bin ich doch froh, dass es Probleme gibt! Wie schön ist es doch, wenn nicht immer alles genau so ist, wie es idealerweise sein könnte. Zum Glück habe ich Probleme, irgendwie mag ich sie ...»
Albin Rohrer