20. Dezember 2019

Strafen, Gewalt und Gerechtigkeit

Strafen, Gewalt und Gerechtigkeit
Lesezeit ca. 10 min

Strafen ist ein zweischneidiges Mittel in der Erziehung. Kinder sollen lernen, sich an Regeln zu halten. Andererseits sollen mündige Menschen selber entscheiden, was gut ist und Widerstand gegen falsche Befehle und Unterdrückung durch fremde Herrschaft erreichen können.

Innerer Trieb und innere Kraft

Jeder Mensch bringt eigene Wünsche mit. Schon beim Säugling steuern körperliche und seelische Bedürfnisse sein Verhalten: Hunger, Wärme, Kontakt und vieles mehr. Diese inneren Triebfedern bilden eine vitale Kraft, aus der heraus sein Verhalten motiviert wird. Es gilt, durch die Erziehung diese Kräfte zu zähmen; oder besser gesagt, sie dem bewussten Willen verfügbar zu machen.

Diese Zielsetzung verlangt aber einen delikaten erzieherischen Balanceakt. Einerseits braucht das kleine Kind Kräfte gegen den inneren Druck von Trieben, Gelüsten und rein egozentrischen Wünschen. Andererseits braucht jeder freie Mensch innere Kräfte, bewusste Wünsche und eigenständige Ziele, um nicht in «Kadavergehorsam» willfähriger Roboter und Befehlsausführer zu werden. Klare Forderungen, Regeln und Strafen bilden also einen notwendigen Widerstand von aussen gegen den inneren Triebdruck, um im Kind selber Gegenkräfte aufzubauen, damit es seinen Gelüsten nicht ausgeliefert bleibt.

«Ein Balanceakt ist es deshalb, weil die Gefahr besteht, dass eine zu harte Erziehung die eigenen Wünsche und damit die innere Kraft des Kindes abtöten oder ins Unterbewusstsein hinabdrücken.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Vertrauen und Einsicht

Jede Erziehung arbeitet mit diesen inneren Kräften des Kindes. Erziehende verlieren jeden Einfluss, wenn das Liebesbedürfnis über längere Zeit dermassen frustriert wird, dass das Kind nicht mehr an das Wohlmeinen der Erziehenden glauben kann. Verspielen Eltern ihre Glaubwürdigkeit, sodass ein Kind (und später auch ein Erwachsener) das Vertrauen in sie verliert, gibt es kaum mehr einen Grund, dem Erziehenden und seinen Forderungen zuliebe auf etwas zu verzichten. Es resultiert die sogenannte «Schwererziehbarkeit». Viele frühere Erziehungsanstalten versuchten es dann mit immer härteren Strafen, die aber in den meisten Fällen in einer Gewaltspirale enden und hartgesottene Kerle oder gebrochene Existenzen produzier(t)en. Wem es aber gelingt, bei «Schwererziehbaren» Glaubwürdigkeit zu erringen, gewinnt sie oft mit Haut und Haar.

Positiv formuliert muss das Strafmass also für den Bestraften erträglich und mehr oder minder einsichtig sein. In der frühen Kindheit sollten wir aber sowieso noch nicht von Strafe reden; denn …

«... Strafe ist nur sinnvoll, wo bereits eine gewisse Einsicht in Gründe und Zusammenhänge möglich ist.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Verzicht einfordern – zum Beispiel eine gewisse Zeit warten lernen, bis die Nahrung kommt – ist schon ab dem ersten Halbjahr möglich und nötig. Niemand wird dies aber als Strafen bezeichnen.

Strafen und Emotionen

Strafe wird als Disziplinierungsmittel verstanden. Mit Disziplin bezeichnen wir die Fähigkeit zur Selbststeuerung und – soweit als möglich – unabhängigen Entscheidungsfreiheit: Wir sollen uns ebenso des inneren Triebdrucks als auch der äusseren Zwänge, Versuchungen und Zumutungen bewusst sein, um selber entscheiden zu können, welchen Einflüssen wir in welchem Masse nachgeben wollen. Vernünftiges Strafen dient also der Zivilisierung und Sozialisierung der Menschen. Es soll sie auf dem Weg vom triebgesteuerten zum einsichtigen, sozial verträglichen und selbstverantwortlichen, Menschen unterstützen.

Unser Handeln ist nie nur verstandesmässig gelenkt. Vielleicht sogar der überwiegende Anteil unserer Motivation wird von Gefühlen gesteuert, die wir nur mehr oder meist weniger rational durchschauen. Im Wort Emotionen ist nicht zufällig der Wortteil «Motion» – übersetzt «das Bewegende» – enthalten. Um angepasst zu handeln, genügt der Verstand nicht. Die Regeln und Normen müssen auch emotional verankert werden. Und hier kommt das Strafen ins Spiel. Jemand soll sich an Normen halten, respektive einen Nachteil oder Schmerz erleiden, wenn er gegen Normen (Verhaltensregeln, ethische Grundsätze etc.) verstösst. In der Erziehung geht es zunächst – beim kleineren Kind – darum, durch Erklärungen Einsicht in diese Regeln zu gewinnen. Strafe wird eingesetzt, um Kindern deren Gültigkeit zu beweisen.

«Nur wo auch emotional die Gültigkeit von mitmenschlichen Ordnungen erlebt wird, wird sich ein Mensch auch dann an diese Ordnung halten, wenn ihn keine akute äussere Kontrolle beaufsichtigt.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Strafe und Macht

Strafen ist nur möglich, wo ein Machtgefälle besteht, das vom Bestraften anerkannt wird. Wie oben schon angetönt, kann erzieherischen Einfluss nur gewinnen, wer an inneren Motiven andocken kann. Aus Berichten standhafter Folteropfer wissen wir, dass starke, verinnerlichte Ideale auch schweren körperlichen und seelischen Torturen standhalten können, wenn die Gefühlsbindung an bestimmte Ideale (ethische, religiöse oder sogar politische) stärker sind als der Schmerz. Der Kampf um die Persönlichkeit ist wesentlich ein innerer Kampf, wem ich die Macht gebe (vgl. Beitrag in der letzten Ausgabe: «Mitläufer, Führer und Fanatiker»).

Nun sind in der Familie meistens die frühen Gefühlsbindungen sehr starke Kräfte, die sich Kinder – und auch Eltern – gegenseitig erhalten wollen. Eltern können ihre Kinder aber nur erziehen, wenn sie einen Ausgleich zwischen ihren Idealen (Normen) finden, die sie den Kindern einpflanzen wollen und ihrer emotionalen Bindung an diese. Ängstigen sich Eltern zu sehr vor dem Liebesverlust ihrer Kinder, dass sie ihre Vorstellungen und überzeugungen nicht mehr durchzusetzen wagen, kehrt sich das Machtverhältnis um. Dann kommt es für Kinder zu Pyrrhus-Siegen: Sie gewinnen im Augenblick die Oberhand, verlieren aber auf lange Sicht an Autonomie. Der «Sieg» verführt sie zur falschen Annahme, sie seien massgeblicher als alle Erwachsenen.

Machtmissbrauch und Gewalt

Machtmissbrauch ist sozusagen die Kehrseite elterlicher Schwäche. Bis in die Pubertät sind die Eltern meistens körperlich die Stärkeren. Aber auch hinsichtlich Kenntnis der Realität, gesellschaftlicher Forderungen und ethischer Massstäbe haben sie einen natürlichen Vorsprung.

«Hier gilt es, sich selber immer wieder zu vergewissern, ob ich aus einer höheren Warte betrachtet recht habe mit meinen Forderungen; oder ob ich bloss meinen Machtvorsprung für eigennützige Zwecke oder auch aus Bequemlichkeit durchsetze.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Übrigens kann auch Machtverzicht (laisser faire) Bequemlichkeit sein und so als Machtmissbrauch qualifiziert werden. Je älter und «aufgeklärter» ein Kind ist, desto stärker können solche Fragen ausgehandelt werden. Einerseits lernen Kinder und Eltern dabei, ihr Verhalten zu überdenken. Andererseits führt es zu doppeltem Erkenntnisgewinn: Die eigenen Motive werden bewusster erfasst und die Gültigkeit (resp. Unsinnigkeit) der geforderten Normen kann erkannt werden – auf Seiten sowohl der Kinder als auch der Eltern.

Der Weg, den ich empfehle, ist beschwerlich. Eindruck und Willfährigkeit mit Gewalt zu erringen, erscheint den momentan «Starken» der einfachere Weg. Aber auch hier gilt: Das erzwungene Einlenken, ohne den Prozess über Einsicht und gefühlsmässige Verankerung, führt nicht dorthin, wo die Gewalttätigen denken. Emotional wird nicht die erpresste Verhaltensänderung verankert, sondern der Hass gegen die Gewalttätigen. Der Samen der Rache wurzelt im Gemüt: Wenn ich stark sein werde, zahle ich es allen heim!

Gerechtigkeitsgerede

Gewalt ist in einem Teil der Gesellschaft verpönt. Also braucht es bei Gewaltanwendung der Rechtfertigung (der öffentlichen und manchmal auch der eigenen innerseelischen). Und da kommt nur allzu oft das schöne, humanistische Ideal der Gerechtigkeit ins Spiel. Ich stelle mich keineswegs gegen dieses hohe Ideal der Menschlichkeit. Ich sehe aber, wie oft und leichtfertig es missbraucht wird, um Gewalt zu rechtfertigen. Denn immer ist zu hinterfragen, wer setzt die Regeln? Wer bestimmt, was gerecht, frei, liberal im konkreten Moment des Handelns bedeutet? Theoretische Definitionen sind recht leicht gemacht, Pauschalurteile auch. Aber werden nicht oft egoistische Interessen hinter der Maske von Recht und Gerechtigkeit versteckt?

Wir haben gesehen, dass Ideale, ethische Richtlinien und Verhaltensregeln emotional nicht mit Gewalt verankert werden können. Erst wenn in Verhandlungen geklärt ist, was für alle gelten soll, kann über Strafen und Sanktionen nachgedacht werden.

«Natürlich muss bei kleinen Kindern auch mal durchgesetzt werden, was sie einfach noch nicht verstehen können. Aber je älter sie sind, desto stärker müssen sie an den Verhandlungen beteiligt werden: Was muss oder soll weshalb gelten?»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Entlarvende Sprache

Auch in der «grossen Politik» gibt es den Rechtfertigungsdruck für Gewalt oder die Einstimmung der Bevölkerung zu Gewaltanwendung. Mächtige und ihre Medien sprechen von Strafzöllen und Sanktionen – und rücken damit sprachlich ihre Gewalt in die Nähe der Heiligung ihrer selbstbestimmten Massstäbe. Strafzölle suggerieren die moralische Überlegenheit und höhere Rechtfertigung des Strafenden. Die Rede unterstellt den «Bestraften» Regelverstösse und/oder moralische Unterlegenheit. Schauen wir kritisch hinter die Fassade des Sprachgebrauches, sehen wir die manipulative Absicht. Durch die dauernde Wiederholung dieser Wendungen wird emotional die Vorstellung implementiert, das Verhalten der Mächtigen sei gerechtfertigt und die weniger Mächtigen (zu Strafwürdigen gemacht) befänden sich im Unrecht.

Verschleiert wird die Tatsache, dass es um einen primitiven Machtkampf geht, wer das Sagen haben soll und wer gehorchen muss, ohne dass sie beim Aushandeln der Regeln mitsprechen können. Solches Gebaren war immer Vorläufer oder Vorbereiter von Kriegen: Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.

«Dieselben Gefahren wie im politischen können wir auch im familiären Kontext beobachten. Wenn die Rechthabersprache eskaliert – sei es zwischen Kindern und Eltern, aber vor allem auch zwischen Eltern – steigt die Gefahr häuslicher Gewalt.»
Dr. phil. Rudolf Buchmann

Ich schliesse meine Serie «vom Umgang mit Kindern» mit einem Gedicht von Heinrich Heine «Deutschland. Ein Wintermärchen, Kap. VI»: Ein vermummter Kerl mit scharfem Beil verfolgt den Dichter. Als dieser ihn zur Rede stellt, erklärt ihm die Gestalt:

«Dem Konsul trug man ein Beil voran zu Rom, in alten Tagen. Auch Du hast Deinen Liktor, doch wird das Beil dir nachgetragen.

Ich bin dein Liktor, und ich geh beständig mit dem blanken Richtbeil hinter dir – ich bin die Tat von deinem Gedanken.»

Zu ergänzen wäre einzig: … und «die Tat deiner Sprache».